The Alaju Settlement – Teil 3

Auszug aus der Autobiografie von Miribal Ciséan

Was bisher geschah:
Zu Beginn des Ersten Weltkriegs verschlägt es die junge Miribal Ciséan nach Paris in ein Kriegshospiz, wo sie einen schwer verletzten Soldaten pflegt. Als dieser stirbt, nimmt seine Mutter, die Besitzerin des Etablissements Scheherazade, Miribal zu sich. Sehr gerührt von der aufopferungsvollen Arbeit Miribals, bietet sie ihr eine Stelle als Assistentin an.
Der «Salon bleu» im Scheherazade ist einer jener Orte in Paris, wo Persönlichkeiten aus Kultur, Wissenschaft und Politik zusammenkommen. Und es ist der Ort, an dem Miribal d’Aciel Arbogast kennenlernt – Universaldilettant und selbsternannter «Goldsucher, Schatzsucher, Scientist, Expeditionist, Archäologist, Kopfgeldjäger, Tierbändiger, und Occultist, allerlei Berg- und Seegängiger», wie er sich selbst in einem Inserat beschreibt. Durch ihn wird Miribal mit der Nienetwiler Kultur und dem daraus abstammenden Volk der Skandaj vertraut gemacht und beginnt, sich mit der Sprache der Skandaj, dem Alaju, zu beschäftigen. Ihre auch anderweitig breiten Sprachkenntnisse machen sie zu einer gefragten Dolmetscherin im Scheherazade, wo Menschen aus der ganzen Welt zusammenkommen, auch Agenten. Die zunehmende Gefahr, die vom Deutschen Reich ausgeht, durchdringt alles, was in Paris geschieht – auch Miribals Arbeit als Agentin für Winston Churchill, der sie höchstselbst rekrutiert hat.
Die Teile eins und zwei sind in den beiden vorhergehenden CRN publiziert.

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Ophelia
September 1936
Aciel kam einen Monat nach dem Anschlag auf Ophelia nach Paris. Das Erste, was er tat, war, mit einem ungeheuer grossen Blumenstrauss bei der kurz zuvor aus dem Hospital entlassenen Ophelia vorzusprechen.
Nach etwa einer Stunde kam er aus seinem Zimmer und zu mir an die Réception, wo ich gerade einige Dinge besprach. Er blieb vor mir stehen und lächelte mich an. «Nun bist du also nicht mehr die Prinzessin.» «Ich werde nie die Königin sein, Aciel, und das ist auch gut so. Wir müssen uns unterhalten. Hast du Zeit?» «Für dich habe ich immer Zeit, Miribal. Gehen wir irgendwohin, wo wir ungestört sind.»
Also fuhren wir mit dem Aufzug zu meiner kleinen Wohnung, die aus zwei Zimmern bestand, die wir zusammengelegt hatten. Es war ein Wohnzimmer und etwas, das auch ein Schlafzimmer hätte sein können, aber ausser dem Bett erinnerte nichts daran. Ich schämte mich etwas, denn es sah mehr aus wie eine Studierstube und fing langsam an, sich dem Atelier von Aciel anzugleichen.
Seltsamerweise ging ich davon aus, dass er über dasselbe sprechen wollte wie ich, nämlich seine mögliche Vaterschaft, aber als wir uns gesetzt hatten, kam er gleich zur Sache: «Ich habe bereits vor drei Tagen, gleich als ich das mit Ophelia erfuhr, ein Telegramm nach London geschickt. Du bist raus aus der Sache!» «Welche Sache?», fragte ich, denn ich hatte ja ein gänzlich anderes Thema im Kopf. «Deine Tätigkeit als Informantin natürlich. Es ist zu gefährlich. Ich habe London mitgeteilt, dass sie auf deine Dienste verzichten müssen und das den Profis überlassen sollen.»
«Habe ich dabei nichts mitzureden?»
«Nein, Miribal, in diesem Fall nicht. Ich habe dich da reingezogen und ich nehme dich auch wieder raus.»
«Kaum bist du Vater, da fängt die Bevormundung schon an!», platzte es aus mir heraus.
«Was redest du da?»
«Ich … Meine Mutter ist gestorben.»
«Ich habe davon gehört. Es tut mir sehr leid.»
«Es wird dir noch mehr leidtun, wenn ich dir erzählt habe, weswegen ich dich hergebeten habe.»
Ich weiss nicht weshalb, aber ich war plötzlich wütend und Zorn und Trauer und was weiss ich was für Gefühle wallten in mir hoch wie überkochende Milch. Tränen schossen mir in die Augen und meine Hände fingen an zu zittern.
«Miribal, was ist denn mit dir?», fragte er erschrocken.
«Kannst du dich erinnern, wo du im Mai 1901 gewesen bist?»
«1901? Miribal, das ist eine Ewigkeit her. Lass mich überlegen … Ich war in Wien, aber erst Ende Juli. Davor war ich wohl in Reims bei den Ausgrabungen. Aber weshalb fragst du das?»
«Hast du dir auf dem Weg nach Paris Essen und Unterkunft mit Singen und Geschichtenerzählen verdient?»
«Ja, aber wieso weisst du das?»
Ich konnte ihm nicht mehr antworten, denn ich rutschte von der Kante des Sessels, auf dem ich gesessen hatte, und fiel ohnmächtig zu Boden. Es war wohl alles etwas viel für mich, und eine Ohnmacht schien meinem Körper wohl gerade die richtige Lösung zu sein.
Als ich die Augen wieder aufschlug, lag ich auf meinem Diwan und Aciel sass neben mir.
«Miribal, hast du mir etwas zu sagen?»
Ich lächelte ihn schüchtern und traurig an. «Auf dem Tisch in meinem Schlafzimmer liegt ein brauner Umschlag. Mach ihn auf und lies ihn, aber bevor du das tust, möchte ich dir das hier zeigen.»
Ich knöpfte den obersten Knopf meiner Bluse auf, holte die kleine Kette hervor, streifte sie mir über den Kopf und streckte sie ihm entgegen.

Zum ersten Mal, seit ich ihn kannte, sah ich ihn sprachlos. Er sah mich mit grossen Augen an, stand auf und holte den Brief. Er las ihn mitten im Wohnzimmer stehend. Als er fertig war, kniete er sich neben mich auf den Boden und gab mir einen Kuss auf die Wange.
«Das alles ist wahr. Mehr kann ich dazu nicht sagen. Ich wusste immer, dass dich irgendetwas mit den Skandaj verbindet. Kein Mensch heisst sonst Miribal. Aber das – das hatte ich natürlich nicht geahnt. Nun, da ich es weiss, ist dies der glücklichste Augenblick in meinem Leben!»

All das ist wirklich so geschehen. Ich weiss, es hört sich an wie aus «Days of Our Lives», aber das kann ich nicht ändern. Mein Leben verlief bis zu diesem Tag ja auch so. Nicht immer natürlich, sonst würde ich hier an einer zwanzigteiligen Roman-Reihe schreiben, aber doch immer wieder. Nun bin ich eigentlich kein romantischer Mensch und dem Kitsch bin ich ganz und gar abgeneigt, aber wenn der Mond über Paris aufgeht und den Eiffelturm in silbernes Licht taucht, soll ich mich dann prügeln, dass mir nicht ein Ah! oder Oh! über die Lippen kommt?

Wie auch immer. Es versteht sich von selbst, dass das ein einschneidender Moment in meinem und Aciels Leben war. Doch die Welt wollte uns nicht die Ruhe gönnen, dass wir uns damit beschäftigen konnten. Ophelia war seit dem Anschlag sehr geschwächt. Sie sass im Café unter den Bäumen und schaute den Passanten nach. Sie hatte auch keine Lust mehr, sich zu frisieren und all das, und als Aciel sie an einem sehr warmen und schönen Herbsttag in einem kleinen Park bei uns in der Nähe zeichnete, da war sie kaum wiederzuerkennen. Nur ihr manchmal etwas süffisantes Lächeln und die wachen Augen waren geblieben.

In Spanien wütete ein Bürgerkrieg und schwemmte Abertausende Spanier nach Paris. Sehr zum Unwillen der Nationalisten, die sie, wie Franco, lieber erschossen hätten.
Unsere Forschungen an der Herkunft des Alaju lag ebenso brach wie meine eigenen Versuche, dieser Sprache näherzukommen.
Und so ging das Jahr 1936 in einer fast schon schwülen Dezembernacht zu Ende. Und ich hatte eine Mutter verloren, eine andere fast verloren, und einen Vater gewonnen.

Ab Mitte Januar 1937 ging es Ophelia merklich schlechter. Der Arzt sagte, dass eine innere Verletzung wieder aufgebrochen sei. Ich war jeden Tag im Hospital, wohin sie wieder verlegt worden war, und schaute zu ihr.

Ophelia starb am 3. Februar 1937 um 14.04 Uhr. Ich war bei ihr und hielt ihr die Hand. All das Leben, dachte ich mir. Siebenundsiebzig Jahre hatte sie das Leben mit offenen Armen umfangen und mit Lust an ihre Brust gedrückt. Und nun war es dahin. Ich sah in ihr friedliches verrunzeltes Gesicht und dachte an den Tag zurück, als sie im Hospiz Sainte mère d’espérance ihren Sohn Frederic besuchen kam. Es kam mir vor wie gestern, und doch lag ein halbes Leben zwischen jenen beiden Tagen. Was aus mir geworden wäre, wenn sie nicht gewesen wäre? Was wäre aus mir geworden?
«Inaube koi wiggi» (Du hättest deinen Weg gefunden), sagte Aciel hinter mir. Er war eben erst eingetreten und ich hatte ihn nicht gehört. «Naube koi?» (Hätte gefunden?), antwortete ich. Ich war mir nicht sicher, ob ich tatsächlich meinen Weg gefunden hätte.
«Sum wiggi akoi je» (Mancher Weg findet dich), sagte er. «Aj, sum» (Ja, mancher), antwortete ich.

Es gäbe so viel, was ich über Ophelia erzählen könnte, dass dies gewiss drei Bände füllen würde. Und es wäre mit Sicherheit ein Renner in den Buchhandlungen. Doch in diesem Buch geht es nicht um uns Menschen, es geht um einen roten Faden, den wir zu erhaschen und uns daran festzuklammern suchen.

Die Beerdigung fand drei Tage später, an einem Samstag, auf dem Cimetière de Passy statt. Es war fast irgendetwas zwischen Staatstrauertag und 14 juillet. Wirklich alle, die etwas auf sich hielten, kamen. Und ihre Freundinnen und Freunde, die manchmal zu wenig, manchmal zu viel von sich hielten, kamen auch. Es waren mehr als achthundert Leute. Da wir nur drei Tage Zeit hatten, die Begräbnisfeier vorzubereiten, herrschten im Scheherazade Zustände wie an einer Kriegsfront. Während hier und dort Befehle gebrüllt wurden, wischte man andernorts Tränen weg und tat, was getan werden musste. Die Feier war nur für geladene Gäste, anders wäre es gar nicht gegangen. Aber auch so hielt sich fast niemand daran, ob er oder sie eingeladen worden war. Das Volk strömte nach der Beerdigung wie eine Woge auf das Scheherazade zu. Zum Glück waren nur drei der «Gallier» wegen des Totschlags an den beiden Attentätern festgenommen worden. Die anderen drei standen vor dem Eingangsportal und machten «auf dicke Hose», wie die jungen Leute heute sagen.
Als spät nachts nur noch wenige unserer Freunde da waren, stimmte Aciel eines seiner Lieder an und uns allen lief es kalt den Rücken hinunter. Und wieder einmal beobachtete ich, dass man, obwohl man kein Wort kannte, das er sprach, dennoch fast jedes Wort, zumindest aber den Sinn des Gesungenen, verstand.
Heute ist mir bewusst, dass der egalitäre Gedanke, der in allem, was die Skandaj tun, dermassen in ihnen verankert ist, dass selbst die Sprache darauf angelegt ist, dass möglichst alle gleichermassen Anteil daran haben können.

 

Arbogast, der Maler
Aciel Arbogast, auch d’Aciel Arbogast, Skandaj, Nienetwiler und mein Vater. Es wird Zeit, dass ich über ihn schreibe.
Aciel ist kein grosser, starker Mann, er ist etwa gleich gross wie ich, hat eine markante Nase, ein Bäuchlein und graues Haar. Sein Gesicht ist wie der Himmel der Bretagne, manchmal kühl und kalt, manchmal traurig grau und manchmal ein sturmverheissender Herbstnachmittag am Meer, ein sich in einem fort abwechselnden Mienenspiel von Erregung, Freude, Zorn, Aufgewühltheit, Lachen und seinem überall und immer durchscheinenden Ernst. Seit ich ihn kenne, betreibt er nicht nur Forschung über die Nienetwiler Kultur, sondern er singt auch, musiziert und, zur Erheiterung der meisten, malt und zeichnet er.
Eines seiner Bilder hängt ja auch, ich erwähnte es bereits, im Scheherazade, allerdings nicht in den öffentlichen Räumen, sondern in Ophelias beziehungsweise nun meinem Büro.
Das Bild, das er im Herbst vor Ophelias Tod gezeichnet hat, war zwar kein Meisterwerk, doch hatte er sie gut getroffen, und so hängt diese Zeichnung nun neben weiteren Porträts von ihr im Foyer.

Aciel weiss selbst, dass er kein grosser Künstler ist, und er wird mir nicht gram sein, wenn er diese Zeilen liest, denn egal ob er nun malt, singt oder seinen Forschungen nachgeht, stets ist er daran interessiert, mehr über das herauszufinden, was er tut. Was ist Kunst?, fragt er sich und beginnt damit, zu malen und zu entdecken, was es an Stilen gibt, welchen geschichtlichen Hintergrund die Stile haben oder was welche Vertreterinnen und Vertreter einer Kunstrichtung dazu bewegte, sich eben so und nicht anders ausdrücken zu wollen. Mit kindlicher Neugierde hat er sich mit ihnen darüber unterhalten und manchmal Fragen gestellt, die denen derart auf die Nerven gingen, dass sie ihn wütend im Café sitzen liessen oder aus ihren Ateliers warfen. Sahen sie ihn dann aber wieder im Scheherazade, dann kramten sie zum Beispiel eine Skizze aus der Manteltasche, gaben sie ihm und sagten sowas wie: «Darüber solltest du dir einmal Gedanken machen!» Und er sah dann die Linien oder Farbkleckse stundenlang an, bis er entweder lachte und sofort in sein Atelier verschwand oder aber wütend damit herumfuchtelte und ausrief: «Ich verstehe das einfach nicht!»

Einmal wartete er mit einem Bild in unserem Café, bis Picasso kam. «He du», rief er ihm zu, «ich habe etwas für dich!» Picasso kam etwas ungehalten ob der Begrüssung an seinen Tisch und Aciel übergab ihm ein Blatt Papier. Ich habe keine Ahnung, was darauf war, aber Picasso hat sich danach zwei Wochen lang in seinem Atelier eingesperrt, und als er wieder rauskam, sprach er drei Monate kein Wort mit Aciel.

Aus purem Jux stellte Aciel einmal eine Staffelei an der Seine auf, dort, wo immer alle Maler zu finden waren. Dann sass er den ganzen Tag vor der Staffelei, trank und starrte die Leinwand an. Er tat all dies so theatralisch, dass immer wieder Leute bei ihm stehen blieben. Ganze Gruppen von Schaulustigen, Künstlerinnen und Künstlern standen um ihn herum und diskutierten, welch ein innerer Zwiespalt ihn wohl vom Malen abhalte. Menschen brachten ihm Wein und Brote mit Käse und sprachen ihm aufmunternd zu. Gegen Abend, es hatte kaum noch Licht, da nahm er einen Pinsel, nahm schwarze Farbe aus der Tube auf sein Mischbrett oder wie man den Dingern sagt, auf denen die Farben gemischt werden, und malte eine sanft gebogene Linie vom linken zum rechten Bildrand. «Weniger geht nicht», sagte er, packte alles ein und ging.
Es gab einen richtigen Tumult, so empört waren die Leute. Später erzählte er mir, dass er am Nachmittag aus den Gesprächen mehr über Kunst erfahren habe als in seinem ganzen Leben davor.

Aciel meinte einmal, dass es nicht wichtig sei, etwas zu können. Vielmehr sei es wichtig, es verstehen zu wollen. «Wenn wir einen Tisch bauen wollen, ist es weniger wichtig, ob wir das auch können. Wir sprechen mit dem Holz, wir sprechen mit der Form, die entstehen soll, wir sprechen mit den Werkzeugen. Wenn wir uns einig sind, wie wir vorgehen wollen, dann tun wir das. Es ist ein Austausch, ein Lernprozess. Wenn du dich mit jemandem aus einem anderen Land unterhältst, auch wenn du nur wenige Brocken seiner Sprache sprichst, erfährst du doch aus erster Hand mehr, als dich ein Buch oder eine Zeitung lehren könnte. So ist es auch, wenn ich einen Tisch bauen will. Wenn ich scheitere, ist das weit weniger schlimm, als wenn ich es nicht versucht hätte. Im schlimmsten Falle rufe ich einen Möbelschreiner, der für mich das Werk vollendet!»

 

Amot
Es war Mitte 1938, als Aciel mich einmal bat, für ihn Modell zu stehen. «Picasso und ich haben uns wieder gestritten. Er malt nun diese Bilder, auf denen die Menschen so schrecklich verzerrt sind. Ich weiss nicht, was dahintersteckt, und er wollte es mir partout nicht erklären. Ich will das ausprobieren und sehen, ob ich dahinterkomme.»
Natürlich habe ich ihm das nicht abgeschlagen. Es würde mir die Möglichkeit geben, Zeit mit ihm zu verbringen und ihn über das Alaju auszufragen. Wir trafen uns in seinem Atelier, dem immer noch gleich überfüllten, chaotischen Raum, und er bat mich, mich am Tisch hinzusetzen und den Kopf auf eine Hand zu stützen. Er brauchte nicht lange und hatte eine recht passable Skizze gefertigt. Dann wollte er aber weitermachen und fing an, auf eine Leinwand zu malen. Sein Gesicht ahmte wieder die bretonische Küste nach und er fluchte und kicherte und murmelte und es war eigentlich nicht zum Zuschauen. Zu alledem hatte ich nicht ein einziges Mal Gelegenheit, ihn wegen des Alaju auszufragen, denn er machte immer «Psst», wenn ich etwas fragen wollte. Irgendwann gegen Abend war er fertig. «Miribal, ich glaube, ich bin fertig!»

Wir sahen uns das Bild an und ich konnte keinen Unterschied zu Picassos Dora-Porträt, das alle so wunderbar fanden, erkennen. Allerdings muss ich zu meiner Schande gestehen, dass ich von Kunst nicht das kleinste bisschen verstehe und etwas einfach farbig oder nicht farbig finde, und manchmal gefällt mir etwas und manchmal nicht.
«Was hältst du davon?», fragte er mich schüchtern. «Es ist farbig. Ja und ich erkenne meine Nase!»
«Nun, vielleicht wird es unserem Gast besser gefallen.» «Du erwartest doch nicht Picasso! Der wird dich auseinandernehmen wie ein Matador seinen Bullen!» «Ach, was denkst du denn. Picasso!» Und in dem Moment klopfte es an die Tür.
Aciel ging hin, öffnete sie und sprach leise ein paar Worte mit dem mir noch verborgenen «Klopfer». «Ach, das tut mir leid, Amot», sagte er dann lauter, «ich habe wirklich vergessen, dass du kommst! Nun komm schon rein und begrüsse Miribal, meine Tochter und ungnädigste Kunstkritikerin im ganzen Reiche Napoleons.»
Herein trat ein älterer Mann, schüchtern sein graues Haar zurückstreichend, nachdem er den Hut abgenommen hatte.
Er war einiges grösser als Aciel, schlank und mit tief liegenden, intelligenten Augen. Sein Mund war zu einem Lächeln verzogen, das mir zeigte, dass es ihm grad nicht wohl war in seiner Haut. «Mademoiselle Arbogast, es ist mir eine grosse Ehre, Sie kennenzulernen.» Er fasste meine Hand und hauchte ihr einen züchtigen Kuss entgegen. «Mein Name ist Amot Nussquammer. Aciel und ich sind Kollegen bei der Nienetwiler Forschung.»
«Es freut mich, Ihre Bekanntschaft zu machen, Monsieur Nussquammer. Mein Nachname ist aber übrigens Ciséan, nicht Arbogast.» «Oh, Verzeihung, Madame Ciséan.» Es hörte sich etwas enttäuscht an. «Mademoiselle ist schon richtig, Monsieur Nussquammer, aber wenn Sie ein Freund von Aciel sind, dann sagen Sie doch bitte Miribal zu mir.»
«Miribal, dann nennen Sie mich Amot», säuselte er etwas verlegen und küsste noch einmal meine Hand.
«Das reicht jetzt an Begrüssungszeremonie, das Essen, Leute, wir wollen doch etwas essen!»
Irgendwie hatte er es geschafft, in den drei Minuten, in denen ich mich mit Amot unterhielt, Wein, Brot, Käse, Salami, Oliven und Orangen auf den Tisch zu zaubern. «Setzt euch hin, ihr zwei. Wein?» Auf eine Antwort wartete er nicht und stellte eine Flasche Rotwein auf den Tisch.

Ich brauche über den Abend nicht mehr viele Worte zu verlieren. Amot ist zwei Jahre später mein Mann geworden. Er war doppelt so alt wie ich, aber aus irgendeinem Grund hat es mich zu ihm hingezogen.
Erst viele Jahre später erfuhr ich, dass das alles Aciel eingefädelt hatte. Von wegen ein Bild malen!

Aber das Jahr liess mir wenig Zeit für Amot. Der Zweite Weltkrieg hatte begonnen. Deutschland war in Österreich einmarschiert, und auch sonst auf der Welt war der Teufel los. Es war furchtbar. Die Repressalien auf das Scheherazade waren so gross geworden, dass immer mehr Gäste fernblieben. Da wir nie einen Unterschied gemacht hatten, woher jemand kam, welcher Religion oder Staatsbürgerschaft er angehörte oder welche Hautfarbe er oder sie hatte, drangsalierten uns die Schergen von Déat und Doriots derart heftig, dass ich mich im Herbst 1938 entschied, das Scheherazade zu schliessen. Ja, ich gab dem Druck nach. Ich wollte kein Haus leiten, das sich dem immer offener gezeigten Antisemitismus und dem Nationalismus beugt. «Wenn wir einmal keinen Spass mehr haben können, dann machen wir dicht!», hatte Ophelia einmal gesagt, und so taten wir es auch. Am 4. Oktober gaben wir ein rauschendes Fest, zu dem noch einmal alle unsere echten Freunde eingeladen waren.
Und das war es dann. Aciel und einige Freunde, darunter auch der mir einmal von Aciel vorgestellte stellvertretende Schweizer Botschafter, halfen mir noch im gleichen Monat, eine Firma zu gründen, die die Vermietung und all das von der Schweiz aus ermöglichen würde. Dank dieser «Finte» besitze ich das Haus noch heute, denn während der Besatzungszeit liessen wir es geschlossen, und ein kleines Emaille-Schild mit dem Schweizerkreuz darauf sorgte dafür, dass die Deutschen es nie anrührten. Nach dem Krieg liess ich das Haus renovieren. In den oberen Stockwerken vermietete ich Zimmer an Künstlerinnen und Künstler und im Erdgeschoss gibt es noch immer ein Café und eine Kunstgalerie.

Da ich nun keine Bleibe mehr hatte, bot mir Amot an, in seine Wohnung zu kommen. Ich war mir erst nicht sicher, ob ich das wollte, aber Amot war so charmant und auch Aciel redete auf mich ein, sodass ich das Angebot schliesslich annahm.
In der Wohnung – sie hatte ganze sechs Zimmer – war kaum eine Wand ohne Bücherschränke. Es war, als lebte man in einer Bibliothek. Amot gab mir ein schönes Zimmer, das tatsächlich noch nicht vollgestellt war. Das änderte sich sofort nachdem ich eingezogen war und die Umzugsleute kistenweise meiner eigenen Bücher und Regale aus dem Scheherazade mitbrachten. Amot schaute sich das Treiben belustigt an und schüttelte den Kopf. «Und ich dachte, dass du ein wenig Ordnung in die Wohnung bringen würdest!»
«Ich halte es da mit Aciel: ‹Je mehr Zeug herumsteht, desto grösser ist die Chance auf eine Entdeckung!›»
«Amot hat so viel Zeug herumstehen, dass er sich selber kaum noch findet. Es ist so viel, dass ich sogar dich fast übersehen hätte.» Kaum wurde er gewahr, was er gesagt hatte, schaute er etwas verlegen in der Wohnung herum. Immerhin waren wir zu dieser Zeit noch nicht ein Paar, er hatte im Haus sogar herumerzählt, ich sei seine Haushälterin (was ihm natürlich kein Mensch geglaubt hat). Ich gab ihm einen Kuss auf die Wange. «Danke, Amot, dass ich hier wohnen darf.» Dann drehte ich mich um und besah mir die Bücherschränke. «All diese Bücher, Amot, ich werde die nie alle lesen können.» «Ach, das brauchst du auch nicht, das meiste ist altes Zeug von alten Männern geschrieben.»

 

Das Treffen der Skandaj
1939: Kriegsjahre und Hektik. Jeder, egal was heute behauptet wird, wirklich jeder, der noch alle beisammenhatte, wusste, was auf Frankreich und die Welt zukommt. Deutschland griff Polen an und in Frankreich baute man mit voller Kraft an der Maginot-Linie. Aber wen das interessiert, kann ein Geschichtsbuch lesen. Hier will ich nicht davon berichten. Aber vom Treffen der Nienetwiler. Einem letzten Treffen «vor dem grossen Krieg, den vielleicht nur wenige von uns überleben werden», wie Aciel einmal sagte.
Das Treffen fand am Freitag, 15. September 1939 in einem grossen Saal in einem Hotel in Genf statt. Leider versäumte ich, den Namen des Hotels in mein Tagebuch zu schreiben, aber am Tag zuvor, bei unserer Ankunft, schrieb ich:

«14. September 1939: Wir sind gestern in Genf angekommen. Im Hotel tuschelte das Personal wegen der vielen ‹Fremden›, die hier eintrafen. Am Abend traf sich Aciel mit mehreren Leuten. Amot und ich durften nicht dabei sein.
Ich kann nicht sagen, was los ist, aber im Hotel wimmelt es von Menschen aus allen Ländern der Welt. Die vom Hotel meinen, das sei ein Kongress vom ‹Roten Kreuz›.»

Am nächsten Tag um halb zehn Uhr morgens gingen wir in den grossen Saal. Der Saal war wirklich seltsam bestuhlt – nicht wie sonst üblich alle in Reihe nach vorne gerichtet, sondern alle im Kreis um ein Zentrum von etwa drei Meter Durchmesser. Amot und ich nahmen in der äussersten Reihe Platz. Als der Saal voll war und niemand mehr hereinkam, war es erst mucksmäuschenstill. Dann erhob sich eine schwarze Frau und ging in die Mitte der offenen Fläche zum Mikrophonständer. Leider war mein Alaju zu dieser Zeit noch nicht so gut, dass ich alles verstanden hätte. Sie gebrauchte viele Wörter, die mir nicht bekannt waren. Aber aus den Gesprächen mit Aciel und anderen kann ich das, was an diesem «medan», wie die Zusammenkünfte der Nienetwiler von ihnen genannt werden, ungefähr zusammenfassen:
«Alle, die hier sind, seien auf das Beste willkommen geheissen. Ich bringe Grüsse unserer Stämme aus Afrika, die nicht hier sein können. Die Welt, das wissen wir, geht einem neuen grossen Krieg entgegen. Alle machen sich bereit. In Afrika bereiten sich die Kolonialmächte vor und verschieben Truppen und Material. Wir haben unter mehr Repression zu leiden als bisher.
Da Franzosen, Deutsche, Italiener, Belgier und Engländer und die anderen Kolonialmächte nun über Flugzeuge verfügen, die weit über das Land fliegen können, fällt es uns schwer, uns weiter zu verstecken. Mischen wir uns aber unter die Menschen in den Dörfern und Städten, sind wir demselben Terror ausgesetzt wie sie. In ganz Afrika gibt es, so viel ich weiss, noch achtzehntausendneunhundertundeinunddreissig von uns. Was wird aus uns werden? Wo sollen wir hin in dieser Zeit, wo wir überall gesehen werden? Unser medan dauerte einundzwanzig Tage – gleich lang, wie ein bebrütetes Ei benötigt, um ein neues Huhn zu schaffen. Wir sind uns einig geworden, dass allen freigestellt werden soll, was sie nun tun wollen. Doch wozu ist dieser Ratschlag nütze? Wir können nicht einfach in die Schweiz oder Nordamerika – wir sind schwarz! So nennt uns der Westen: schwarz. Wo also sollen wir hin, und was sollen wir tun, um unser Erbe zu retten? In Europa will dieser Hitler Krieg anfangen und alle anderen Staaten sehen einfach zu. Selbst hier in der Schweiz nennen sie alle von uns einfach Neger. Sollen wir nach Europa kommen? In Amerika leben viele von uns, die wie Dreck behandelt werden. Dort gilt das Gesetz der Weissen. Wir dürfen nicht in dieselben Schulen, haben nicht dieselben Rechte und werden noch immer behandelt, als wären wir Menschen zweiter Klasse. Sogar uns Skandaj ist es fast unmöglich, dort Fuss zu fassen. Bliebe noch Argentinien. Aber Ortiz meint es zwar gut mit der Demokratie, aber weniger gut mit den Schwarzen. Also, ich bitte die medan, mir heute einen Vorschlag zu machen, was wir tun sollen, um das Erbe der Mti (Swahili für Bäume = Stämme der Skandaj) zu retten. Ich danke euch.»
Die Frau ging an ihren Platz zurück und ein kleiner hellblonder und rotköpfiger Mann ging zur Mitte. «Freundin, gerne würde ich dir sagen, dass in Island eine Heimat für euch wäre, aber das kann ich nicht. Ich bezweifle nicht, dass ihr euch an die tiefen Temperaturen und unser Essen (ein Lacher ging durch den Saal) gewöhnen würdet, aber die dänische Regierung mag euch ebenso wenig wie der Rest der Welt. Wieso das so ist, weiss ich nicht. Auf ganz Island haben wir genau drei Menschen aus Afrika. Aber ich kann euch eines versichern: Wir haben vierzehn Millionen dänische Kronen auf der Bank und wir werden dieses Geld dafür ausgeben, dass alle Skandaj in Sicherheit leben können. Ich weiss, es hört sich hart an, wenn ich das sage, denn wer sind wir, dass wir nur die Skandaj retten? Aber irgendwo müssen wir anfangen, und ich sage, dass das, was wir seit Aberhunderttausenden von Jahren weitergetragen haben, es wert ist, gerettet zu werden. Wichtiger als wir ist doch, dass die Gewissheit, dass das, was uns umgibt, den Menschen ebenso formt wie der Mensch das, was ihn umgibt. Und gerade jetzt, vor einem neuen grossen Krieg, ist es das, was wir am meisten schützen sollten. Ihr alle wisst es, es gab einst nur noch ganz wenige von uns. Verteilt über die ganze Welt haben wir überlebt und Kinder gezeugt und unser Wissen, unsere Gewissheit über diese Welt weitergetragen. Es mag sein, dass es einst eine Zeit geben wird, in der alle Menschen sich den wirklich wichtigen Dingen zuwenden können, nämlich der Mehrung von Wissen und Können um deren selbst willen, und nicht zum Überleben. Aber jetzt, in diesen Tagen, müssen wir retten, was wir retten können. Ich danke euch!»
Ein grosser Mann stand auf und bahnte sich seinen Weg in die Mitte. «Der Rat der Russland-Exilanten gab mir die Aufgabe, euch zu grüssen. Ich grüsse euch also! Er gab mir auch den Auftrag, euch zu sagen, dass wir nun im nahenden Krieg ebenfalls nicht mehr wissen, wohin. Wien ist nun deutsch! Polen ist deutsch. Was ist mit den Niederlanden, wo viele von uns leben, oder England? Im Gegensatz zu unserer Schwester aus Afrika hätten wir die Möglichkeit, nach Amerika zu gehen. Aber unsere Leute sind zurückgekommen. Man mag dort keine Russen. In der Schweiz haben wir einige von uns unterbringen können, aber es wird immer schwieriger. In Kanada mag man die Russen zwar auch nicht besonders, aber immerhin konnten wir gut elftausend unserer Schwestern und Brüder dort in Sicherheit bringen. Ich stimme meinem Vorredner Raedmurson zu: Das Wichtigste ist es, unser Erbe zu schützen. Wir haben achthunderttausend Kanadische Dollars und ebenso viele Schweizerfranken gesammelt, die wir aufbringen können. Ich danke euch!»
Nun stand Aciel auf und ging in die Mitte. «Ich weiss nicht, was ich sagen soll. Ich weiss es wirklich nicht. Der Mensch ist offensichtlich bestrebt, immer und immer wieder dieselben Fehler zu machen. Unser Wissen, unsere Art zu leben, hat noch nie wirklich Einfluss nehmen können, um das zu ändern. Wir müssen uns fragen, ob wir nicht am selben Punkt angelangt sind wie all unsere Vorstämme, die sang- und klanglos in der Geschichte verschwunden sind. Ich plädiere zwar ebenfalls dafür, dass wir unser Erbe retten, immerhin habe ich mein Leben lang damit verbracht, es auf der ganzen Welt zusammenzutragen, aber wir müssen ehrlich mit uns sein. Wozu soll das nütze sein? Wenn der Mensch diese Entwicklung weitermacht, werden wir bald keinen Ort mehr haben, an dem wir leben können. Wo hier der Kapitalismus herrscht, ist es dort der Kommunismus, wo hier Christen sind, sind es dort Muslime, Juden, Buddhisten oder sonst eine Glaubens- oder Nicht-Glaubensgemeinschaft, die sich in ihrer religiösen Intoleranz in Sicherheit wiegt und sie beibehalten will. Menschen wurden und werden überall und zu jeder Zeit abgeschlachtet, versklavt und ausgenutzt, um einigen wenigen dies oder jenes zu ermöglichen. Sei es nun Macht oder Bequemlichkeit, es spielt keine Rolle! Wir können uns nicht mehr verstecken. Meine Vorrednerin hat es gesagt, die Flugzeuge entdecken unsere letzten Siedlungen, und was die Flugzeuge nicht finden, finden Holzfäller, Goldgräber oder die Betreiber von Minen.
Hier in der Schweiz ist das Leben für uns nicht überall einfach, und ja, ich weiss, dass unsere Brüder und Schwestern aus Afrika und Asien nicht alle willkommen sind. Aber bedenkt, es wird einen grossen Krieg geben. Nutzen wir diese Dummheit zu unseren Gunsten. Vielleicht können wir uns nicht selber retten, aber dafür viele unserer Kinder! Das Rote Kreuz hat mir zugesichert, dass wenn wir sie unterstützen, sie uns dabei helfen werden, Kinder aus den Kriegsgebieten in die Schweiz oder an andere sichere Orte zu bringen, wenn wir sie dort bei unseren Familien unterbringen können. Und das können wir! In all diesen Familien können wir unser Wissen weitergeben, und eines Tages, wenn diese Kinder gross geworden sind, können sie wieder in ihre alte Heimat zurückkehren und dort unser Erbe weiterführen.

Es wird Zeit, dass wir lernen, unter denen zu leben, die nicht so denken wie wir. Ich habe das mein ganzes Leben lang gemacht und ebenso mein Vater. Es ist schwer, aber es ist möglich, und wenn wir zusammenhalten und tun, was wir immer getan haben, nämlich sammeln und vermitteln, dann können wir retten, was von unserer Kultur sonst untergeht. Ich danke euch!»

Danach gab es grosse Diskussionen. Eine und einer nach dem anderen standen in die Mitte und sprachen. Erst am Sonntagabend fand das medh sein Ende. Aciels Antrag wurde angenommen.

 

Weggehen
Ende Februar 1940 fuhr Amot trotz aller Vorzeichen zu Aciel in die Schweiz. Er hatte schon Anfang Januar damit begonnen, alles Wichtige in Kisten zu verpacken und nach Luzern zu schicken, wo Aciel, wie wir erfuhren, irgendwo im Umland ein Haus besass. Amot war der Meinung, dass wenn die Deutschen Frankreich nähmen, sich Hitler und der Duce wie Kinder um die Schweiz zanken würden und dort dann nichts sicher wäre. Aber Aciel beruhigte ihn und meinte nur, dass die Schweiz sicher bleiben würde. Woher er die Gewissheit nahm, entzog sich unseres Wissens. Also packte er die halbe Wohnung leer und verschickte alles in die Schweiz. Alleine in der leeren Wohnung war es kaum auszuhalten und bereits wenige Tage nach seiner Abreise begann sich bei mir alles zu ändern. Ich hatte die Symptome bei genügend «Mädchen» gesehen, um zu wissen, was los war. Anfang Mai hatte ich dann die Gewissheit. Ich war schwanger! Wie ein Tiger im Käfig lief ich durch die Wohnung und wusste nicht wohin mit mir. Wie hatte das geschehen können? Wir waren nur einmal zusammengekommen! Ich wusste nicht, ob ich mich freuen sollte oder nicht. Ich wusste nicht, was weiter geschehen würde. Und ich hatte keine Ahnung, was ich als Mutter zu tun hatte.
Am 6. Mai 1940 schrieb ich Amot ein Telegramm mit den Worten: «Amot. Hitler steht vor der Tür. Ich komme in die Schweiz. Ich bin schwanger. jt Miribal»
Glücklicherweise hatte ich genügend Freunde in Paris, die mir halfen, alles zu erledigen. Meine Sachen wurden gepackt und zu Amot geschickt, was, dank unseres Freundes, der noch immer wacker die Schweizer Botschaft hielt, kein Problem war. Er stellte mir auch ein Sondervisum aus, was in Anbetracht der verschärften Einreiseregeln der Schweiz nur ging, weil Amot über Nacht nach Paris kam und wir bereits am 14. Mai heirateten. Am 24. Mai fuhren wir zurück in die Schweiz. Vorher gaben wir noch eine letzte, leidlich lustige Party und verabschiedeten uns von unseren Freunden. Ich sollte Paris erst acht Jahre später wiedersehen.

Die Zugfahrt von Paris nach Genf war eine einzige Tortur. Der Zug war überfüllt, laut, stickig und ratterte derart langsam über die Gleise, dass ich schon dachte, dass wir nie ankommen würden.
Die Waggons waren voller Menschen, die raus aus Frankreich wollten. An der Grenze zeigte sich, dass ein grosser Teil kein Visum hatte und aussteigen musste. Ich werde die Szenen, die sich da abspielten, in meinem ganzen Leben nicht vergessen. Von Genf ging es dann nach Lausanne und von da nach Bern, wo wir bei Bekannten von Aciel übernachten konnten. Am Mittag des 25. Mai trafen wir dann in Luzern ein.

Von den ersten Tagen in unserem vorübergehenden Zuhause weiss ich nur noch wenig. Ich war so erschöpft, dass ich fast eine Woche im Bett oder im Liegestuhl im Garten verbrachte. Amot und Aciel kümmerten sich so rührend um mich, dass ich irgendwann ein schlechtes Gewissen bekam und mich zwang, aufzustehen, um wenigstens in der Küche zur Hand zu gehen. Doch die beiden bugsierten mich freundlich, aber bestimmt wieder in den Garten. Ich hörte die beiden diskutieren und manchmal gar lachen. Töpfe schepperten und aus dem Fenster der Küche, das zum Garten ging, schwappten Schwaden, die mir das Wasser im Mund zusammenlaufen liessen.

«Ich möchte, dass wir das Land verlassen», eröffnete Amot mir eines Morgens.
«Wieso willst du hier weg? Aciel sagte doch, wir seien hier sicher!» Allein die Vorstellung, schon wieder woandershin zu müssen, machte mich müde und liess mich bangen.
«Ich weiss, was er gesagt hat, aber so sehr ich ihm vertraue, meine Furcht, dass die Deutschen auch die Schweiz angreifen, ist nun einmal grösser. Aciel hat Freunde in Chicago. Dort könnten wir uns niederlassen. Er half mir, in Chicago ein kleines Haus zu finden, und ein Bekannter von ihm könnte dir Arbeit als Übersetzerin geben.»
«Amot, ich habe gerade meine Heimat verlassen und glaubte mich hier an einem sicheren Ort, um abzuwarten bis wir eines Tages wieder zurückkönnten. Jetzt willst du, dass ich mit nach Amerika komme?»
«Wo sollten wir sonst hin? Ausser Nordamerika ist nichts mehr sicher. Also Kanada oder die USA. Es muss ja nicht für immer sein. Sollten die Deutschen eines Tages geschlagen werden, wäre der Weg zurück wieder frei. Denk doch an das Kind, das in dir heranwächst. Was, wenn auch hier der Krieg ausbricht?»

Was hätte ich da noch sagen können. Zwei Monate später wurde unser gesamtes Hab und Gut in Amots altem Landhaus bei Zürich eingelagert. Aciel gab uns zu Ehren ein Abschiedsfest. Aus der ganzen Schweiz kamen Freunde und Bekannte. Mindestens die Hälfte von ihnen waren Skandaj.
Es war mitten in der Nacht, als ich mich völlig erschöpft am Rand des Gartens auf die kleine Steinmauer niederliess und zu den Sternen hochsah.
«To she o do, to she be» [eigentlich «Tosch odo, tosch be» = «Tausend Sterne, tausend Möglichkeiten», gesprochen im Dialekt der Jilin Skandaj – Anm. der Red.] sagte ein kleiner Mann, der aussah, als hätte man einen Chinesen zu lange in der Sonne gelassen, so verschrumpelt sah er aus. Er hiess Xiao Keren und kam aus dem Nordosten Chinas. Als dort die japanischen Truppen einfielen, flohen viele von den Jilin Skandaj in die USA, einige zog es nach Europa. Xiao war nun Besitzer eines kleinen Vergolderateliers in La Chaux-de-Fonds. Arbogast sagte über ihn, er habe einen Verstand, der in seiner Schärfe nur durch seine Zunge übertroffen werde.
«Tosch be, tosch den gadho» («Tausend Möglichkeiten, Tausendes zu sammeln»), erwiderte ich.
«Ja, so ist das, Miribal. Hab keine Angst vor dem Neuen. Du fühlst dich unsicher, weil du die neue Welt nicht kennst, weil du nicht mehr in Paris bist und bald nicht mehr hier bei deinem Vater. Du hast das Gefühl, keine Macht mehr über dein Leben zu haben, nicht wahr? Aber du bist eine von uns und du wirst, wo auch immer du hingehst, Skandaj finden, die dir helfen. Das Unbekannte war immer ein Teil unseres Lebens. Wir sind immer gewandert und von einem unbekannten Tal ins nächste gelangt. Unsere Neugierde und unser Drang, Wissen und Können zu sammeln, machte uns zu dem, was wir sind. Es ist ein Abenteuer, Miribal. Und es gibt keine Macht über das Leben. Es gibt überhaupt keine Macht. Wer das glaubt, begeht einen Fehler. Ebenso wenig, wie die Welt Macht über uns hat, haben wir Macht über die Welt. Es ist ein Tanz, Miribal. Du tanzt mit der Welt. Lerne ihren Rhythmus, ihren Schritt, und du wirst von ihr getragen werden wie heute Abend von deinem Gemahl. Ich wünsche dir gutes Sammeln und einen schönen Tanz, Miribal.» Er zog mich etwas unsanft zu seinem schrumpligen Gesicht hinunter und gab mir einen Schmatzer auf die Stirn. Dann drehte er sich um und verschwand in der Nacht.

Kaum war ich wieder allein, trat schon Aciel zu mir. «Wie geht es dir?», fragte er und suckelte an seiner Pfeife, die seit einiger Zeit zu seinem Gesicht gehörte wie seine markante Nase.
«Ich bin müde und denke über unsere Zukunft nach.»
«Zukunft, ja? Nun, Miribal, es gibt Zukunft so wenig wie Vergangenheit. Es sind alles nur Konstrukte, die …»
«Ach, halt den Mund, Aciel», unterbrach ich ihn. «Müsst ihr mir ständig mit weisen Sprüchen kommen? Kannst du mich nicht einfach in den Arm nehmen und sagen, dass du mich vermissen wirst?»
Er schaute mich etwas verdattert an und eine Träne rann ihm über seine knochige Wange. «Ich …, Miribal, ich werde dich mehr vermissen als ich irgendjemanden sonst je vermisst habe, ich …»
«Halt den Mund Aciel», sagte ich sanft und umarmte ihn flennend.

 

Die Ankunft
Die Nacht war lang und der Tag darauf war schrecklich. Die Vorbereitungen für den Umzug nach Chicago erledigten Amot und Aciel und ich lag in der Bauernstube, wie sie das hier nannten, und sah deprimiert in den regnerischen Tag hinaus.
Xiao hatte natürlich recht. Es war ein Abenteuer. Nur dass sich bei mir einfach keine Vorfreude einstellen wollte.

Drei Tage später fuhr uns Aciel mit einem Auto zum Flughafen in Zürich, wo wir uns verabschiedeten. Das Flugzeug war fast ausschliesslich mit Amerikanern besetzt und wir mussten über Paris, England, Island, Neufundland und von da nach Chicago fliegen. Ich glaube, wir waren eine Ewigkeit unterwegs. Am Montag, dem 29. Juli, um sieben Uhr achtundzwanzig betrat ich amerikanischen Boden.

In Chicago angekommen, fuhr uns ein Taxi in die Kenwood Avenue, wo wir vor einem kleinen, dreistöckigen, blau geschindelten Haus mit der Nummer 5548 anhielten. Amots und Aciels Freunde aus Chicago hatten ganze Arbeit geleistet. Nicht ein einziger Koffer, nicht eine einzige Kiste stand im Haus herum – es sah aus, als hätten wir dort schon immer gewohnt. Die Tränen rannen mir wieder übers Gesicht und ich begann diese Schwangerschaft langsam lästig zu finden. Ich küsste Amot und legte mich in dem hübschen kleinen Schlafzimmer aufs Bett und schlief sofort ein.

Das Haus der Familie Nussquammer-Ciséan an der Kenwood Av. 5548. Aufnahmedatum unbekannt.

Die ersten zwei Monate verbrachte ich fast ausschliesslich im Haus, machte mich vertraut, begrüsste Nachbarn und sah mich in der näheren Umgebung um. Amot wollte mich dann endlich aus dem Haus locken, und als wir eine Einladung für die Saison-Eröffnung der Chicago Orchestra Hall erhielten, konnte ich nicht Nein sagen und so kam ich endlich in die City. Das Konzert, zu dem wir von Hans Lange, dem damaligen Dirigenten und Assistenten des Chicago Symphony Orchestra, eingeladen wurden und der mich noch aus der Zeit des Scheherazade kannte, war ganz wunderbar und das erste Konzert klassischer Musik, das ich je hörte. Gerade habe ich das alte Programmheft hervorgekramt:
[Thursday, October 10th, 1940, Frederick Stock, «Festival Fanfare» (Premiere), Beethoven, Symphony No. 3 «Eroica», Strauss «Till Eulenspiegel’s Merry Pranks», Finale RIMSKY-KORSAKOW «Capriccio Espagnol», Opus 34] Und auf der Rückseite ist noch die Telefonnummer von Mr. Morel notiert, der mir doch tatsächlich eine Arbeit als Dolmetscherin anbot.

Dazu traf sich offensichtlich die gesamte wissenschaftliche Welt Chicagos dort und es war ganz wunderbar, so viele bekannte Gesichter zu sehen, denn viele Leute waren an der Weltausstellung in Paris gewesen und nicht wenige davon waren bei uns im Scheherazade zu Gast gewesen und inzwischen angesehene Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler in den USA.

Jedenfalls kam es so, dass wir schon auf Ende des Monats ein gutes Dutzend Leute zu uns eingeladen hatten, um uns an Ophelia und das Scheherazade und an unsere alten Heimaten, die wir des Krieges wegen hatten verlassen müssen, zu erinnern. Und so hat sich wieder einmal die Macht hinter meines Vaters Netzwerk gezeigt: eine alles durchdringende, alles verbindende Kraft, die mich, ganz offensichtlich, nie mehr loslassen wird.

 

Weiter geht es in den nächsten CRN.