Eine kurze Geschichte der Macht

Von David J. Krieger

Seit frühesten Zeiten organisieren wir Menschen kooperatives Handeln in grossen Gruppen meist mittels Hierarchien: Sobald mehr als zwanzig oder dreissig Menschen zusammenkommen, muss jemand die Chefin, der Häuptling, die Königin, der Anführer, die Präsidentin usw. sein, denn die räumlichen und zeitlichen Bedingungen der Face-to-Face-Kommunikation erlauben es grossen Gruppen einfach nicht, gemeinschaftliches Handeln effektiv zu koordinieren. Jemand muss der Diskussion ein Ende setzen und Befehle erteilen, die von den anderen Gruppenmitgliedern ohne endlose Debatten ausgeführt werden. Der viel diskutierte und nicht genau definierte Begriff der Macht wird stets durch Hierarchien der einen oder anderen Art veranschaulicht. Regierungsstellen, Unternehmen, Bildungseinrichtungen, Religionsgemeinschaften, ja jede Form der Zusammenarbeit von Menschen wird mithilfe von Macht organisiert, die unweigerlich von oben nach unten in Form von Befehls- und Kontrollkommunikation fliesst.

Die Pyramide kann als die beste Visualisierung von Macht angesehen werden: Sie ist eine Struktur, die im Organigramm fast jeder Organisation in der Gesellschaft zu finden ist. Widerstand gegen Macht oder Versuche, Macht zu erlangen, werden von der Form der Pyramide ausgehend immer als «bottom-up»-Bewegungen interpretiert, während Versuche, Macht zu erhalten, immer «top-down» sind. Dies ist die Annahme, die aller sozialen «Kritik» in der Moderne zugrunde liegt. Man kann sagen, dass die gesellschaftliche Kommunikation schon immer vertikal war: Befehle kommen von oben, während die Befolgung oder der Widerstand von unten kommt. «Aufklärung» in der europäischen Moderne bedeutet das Erreichen persönlicher Handlungsfreiheit (Emanzipation) durch Wissen, und weil eine so verstandene Emanzipation an sich etwas Gutes ist, wird kritisches Wissen zu einer Art Moral, die vorschreibt, dass Machtmissbrauch seitens der Eliten zu bekämpfen ist. Mit der Entwicklung neuer Kommunikationstechnologien wird diese uralte Struktur von Macht und Gegen-Macht, welche die grundlegende hierarchische Struktur der Gesellschaft nicht infrage stellt, unterbrochen: Es wird – zum ersten Mal in der Menschheitsgeschichte – möglich, wirksam zu kommunizieren und zu kooperieren nicht nur im Modus von einem zu vielen, also «top-down», sondern von vielen zu vielen. Kooperatives Handeln und die Organisation des Lebens werden dezentralisiert.

Die Macht der Hierarchie verschwindet und es entsteht die Macht des Netzwerks. Netzwerke verkörpern diese multilaterale, Viele-zu-Viele-Kommunikation.
Traditionelle bürokratische Organisationen werden in der globalen Netzwerkgesellschaft zunehmend dysfunktional und verlieren ihre Wettbewerbsfähigkeit. Hierarchien werden überall durch Netzwerkorganisationen ersetzt, die auf verteilter Entscheidungsfindung und Selbstorganisation basieren. Die Nienetwiler und Nienetwilerinnen sprachen von Sammeln, das heisst vom Verbinden von allen Dingen in einem Kollektiv. Könnte es sein, dass nach einem mehrere Jahrtausende dauernden Umweg durch Hierarchien die Macht wieder zu ihrer ursprünglichen Form des Verbindens und Vernetzens findet?