Das Ende von Arbeit und der Anfang von Design

Das Ende der Arbeit und der Anfang von Design

Amot Nussquammer jun.

(aus dem Nachlass von A. Nussquammer, editiert und übersetzt von David Krieger und Simon Meyer)

 

Vorbemerkungen

Der vorliegende Text ist die deutsche Übersetzung eines ursprünglich für die Publikation auf Englisch verfassten Beitrags von Amot Nussquammer jun. Der Text wurde undatiert und in Handschrift unter den Papieren seines Nachlasses gefunden. Vom Inhalt und von den wenigen Randnotizen her, die auf den Anlass für das Schreiben hinweisen könnten, lässt sich auf die frühen 1980er-Jahre als Zeitpunkt der Entstehung des Texts schliessen. Der Anlass waren offensichtlich die damals im Gang gekommenen Diskussionen über das Potenzial künstlicher Intelligenz und von Automation. Es wurde und wird damals wie heute heftig diskutiert, ob nicht in vielen Bereichen die menschliche Arbeit durch Roboter ausgeführt werden könnte. Nussquammer fand sich in einer besonderen Lage, an dieser Diskussion teilzunehmen. Er hatte nämlich das Glück, dass seine Mutter, Miribal Ciséan, sehr früh zu den Vätern der Kybernetik Kontakt hatte und sogar als Dolmetscherin bei den berühmten Macy-Konferenzen anwesend war. Nussquammer hatte also Zugang zu den aktuellen Informationen über die Entwicklung von künstlicher Intelligenz. Er war überzeugt, dass die KI einen evolutionären Sprung für die Menschheit bedeutete, da sie beweise, dass das rationelle Denken – das «Rechnen», wie er zu sagen pflegte – nicht das auszeichnende Merkmal des Menschseins sei, wie dies seit den Griechen behauptet wurde. Der Mensch war in den Augen Nussquammers nicht – wie Aristoteles für die ganze abendländische Kultur festgelegt hatte – das «Tier, das vernunftbegabt» ist. Ganz im Gegenteil: Die Vernunft gehörte aus seiner Sicht nicht den Menschen allein. Sie kann durch einen Computer ersetzt und sozusagen «ausgelagert» werden. Was bleibt, wenn der Mensch im Wesen nicht durch die Vernunft bestimmt wird? Dies war die Frage, welche Nussquammer beschäftigte und die seine wissenschaftlichen Arbeiten leitete. Leider war er, wie es oft der Fall ist bei aussergewöhnlichen Menschen, seiner Zeit voraus und seine Auffassung über die Bedeutung von KI fand wenig Anklang. Dementsprechend bekam er wenige Gelegenheiten, seine Gedanken und Ideen in akademischen Zeitschriften zu publizieren. Dies ist vermutlich der Grund, warum viele seiner Texte unveröffentlicht blieben. Ein weiterer Grund dafür, dass nur wenige seiner Schriften den steinigen Weg zur wissenschaftlichen Veröffentlichung erfolgreich durchschritten, liegt wahrscheinlich in seinem Stil: Er folgte nicht den Gepflogenheiten akademischen Schreibens und es wurde ihm oft Schroffheit oder gar Unhöflichkeit vorgeworfen. Als ich ihn einmal auf dieses Problem ansprach, erwiderte er, Wahrheit und Höflichkeit seien verschiedene Dinge, und mit Hinweis auf die Entwicklung der Courtoisie an den französischen Höfen der Frühen Neuzeit meinte er, die Höflichkeit sei erfunden worden, um das Lügen akzeptabel zu machen. Die vorliegende Übersetzung bleibt also dem schroffen Schreibstil Nussquammers trotz Bedenken treu. Die Leserinnen und Leser seien hiermit vorgewarnt. Wir erlauben uns, Nussquammers Ideen, die direkt an das Gedankengut der Nienetwiler Kultur anknüpfen, durch die Publikation in den CRN die verdiente Verbreitung zu verleihen. Dass Nussquammer von den Arbeiten des französischen Ethnologen Bruno Latour beeinflusst wurde, der seinerseits von Nienetwiler Ideen beeinflusst sein müsste, wird dem aufmerksamen Leser und der aufmerksamen Leserin nicht entgehen. Latour selber spricht aber nicht von Nienetwil und Nussquammer erwähnt den Namen Latour unter den von ihm zitierten Quellen nicht. Wir lassen dies also mit dem blossen Hinweis auf eine mögliche Verbindung stehen.

 

Essay

Wenn die Roboter die Arbeit machen, d. h. wenn alle Routine und geisttötenden Tätigkeiten industrieller Produktion durch die Entwicklungen von künstlicher Intelligenz automatisiert werden, dann hat dies weitreichende Folgen für die Menschheit. Seit mindestens drei Jahrhunderten, also seit Beginn der Industriegesellschaft, versteht der Mensch sich selbst als Arbeiter. Arbeit und Menschsein sind in den Köpfen der meisten untrennbar miteinander verbunden. Das menschliche Leben ist ein Leben der Arbeit. Die auszeichnende Tätigkeit des Menschen in der modernen Welt ist Arbeit und nicht, wie die alten Griechen meinten, die Musse. Neben dem Tod und vielleicht auch den Steuern ist noch ein Drittes unumgänglich und lebensbestimmend: die Arbeit. Dabei bedeutete Arbeit nicht immer die stumpfsinnigen Handlungen industrieller Produktion. Bevor der Mensch durch den Kapitalismus zur Arbeit verurteilt wurde, bevor es darauf ankam, einen Job zu haben, betrieb der Mensch Ackerbau und Handwerk, die allerdings einen vollkommen anderen Sinn hatten – auch wenn dieser Sinn von christlichen Vorstellungen über die Folgen der Sünde überdeckt oder verstellt wurde – als das, was die Industriegesellschaft «Arbeit» nannte. Die Roboter werden diese tief verwurzelten Annahmen ändern. Anstatt zu jammern und in Angst zu leben, dass die Maschinen uns die Jobs wegnehmen, Jobs, die wir sowieso nicht wollen, sollten wir jubeln und die Chance ergreifen, uns auf den ursprünglichen Sinn des menschlichen Handelns zurückzubesinnen. Dies wäre die Aufgabe heute und auch der Weg in die Zukunft.

Warum handeln die Menschen? Warum tun sie überhaupt etwas, anstatt wie die Schimpansen herumzustreunen und von der Hand in den Mund zu leben? Offensichtlich, weil sie ein anderes Problem zu lösen haben als Tiere. Menschsein heisst, sich um ein anderes Problem zu kümmern als das blosse Überleben, auch wenn es immer wieder im Lauf der Geschichte Situationen gegeben hat, in denen das blosse Überleben im Vordergrund stand. Aber sogar in diesen Situationen hatte das menschliche Handeln eine andere Bedeutung, d. h. es hatte überhaupt eine Bedeutung. Es ging und es geht noch immer nur um das eine: um den Sinn. Sinn ist nicht gegeben. Sinn wächst nicht an den Bäumen. Sinn ist nur da, weil jemand sich darum kümmert. Kummer und Sorge bestimmen das menschliche Dasein. Dies soll aber nicht das christliche Lied des Leids wiederholen. Ganz im Gegenteil, Sorge bedeutet: sorgen für, sich kümmern um, das tun, was nötig ist, was es braucht, was wichtig ist. Und was soll dies sein? Woher wissen wir Menschen, was zu tun ist? In der Industriegesellschaft wurde uns diese Frage schon durch den Kapitalismus beantwortet: Wir müssen arbeiten. Wir müssen einen Job haben. Wenn nun diese Aufgabe den Robotern übergeben wird, was sollen die Menschen noch tun?

Ich will keinesfalls die vormoderne Agrargesellschaft romantisch verherrlichen. Diese Welt lebte in einer Wolke religiösen Aberglaubens, der die brutalste Verachtung des Menschen in fast jeder Hinsicht legitimierte. Man muss viel früher in die Zeit zurückgehen, damit die ursprüngliche Beziehung des Menschen zur Welt zum Vorschein kommt. Ich meine, man müsse in der Vorgeschichte suchen, also vor alledem, was wir gewöhnlich als «Zivilisation» verherrlichen. Erst dort, als der Mensch noch nicht Mensch war, also als es keine wesentliche Unterscheidung zwischen Menschen und Nicht-Menschen gab, wird sich das Wesen der Arbeit, d. h. das Wesen des Handelns, zeigen.

 

Arbeit, Freizeit, Kunst

Seit den antiken Griechen gibt es neben der Arbeit immer auch andere Bereiche des Lebens. Wenn es um Arbeit ging, sprachen die Griechen von dem, was unter Zwang und Not geleistet werden muss, um den Lebensunterhalt zu sichern. Dies war vor allem das, was mit Ackerbau, Viehzucht und Haushalt zu tun hatte und üblicherweise von Sklaven ausgeführt wurde. Wer «adlig» geboren worden war und Sklaven für die Arbeit hatte, widmete sich den Angelegenheiten der Polis, aber auch dem, was als Kontemplation und Wissen bezeichnet wurde. Es entstand die heute noch geltende Gegenüberstellung von Arbeit und Freiheit, wobei die Arbeit sich auf Ackerbau, die Herstellung von Werkzeugen und Waffen richtete und die Freiheit auf Politik und Wissenschaft. Die künstlerische Tätigkeit, welche die Götter, die Polis, aber auch die grossen Taten der Heldinnen und Helden in Stein und Wort verherrlichte, war zwar höher bewertet als Arbeit, die auf das Überleben ausgerichtet war, aber galt trotzdem als Arbeit (Aristoteles’ poiein). Dies hat sich in der modernen Welt geändert: Kunst gilt heute als Bereich der radikalen Freiheit oder als das, was die moderne Welt «Kultur» nennt.

Es wäre naheliegend, Roboter mit Sklaven zu vergleichen – das Wort selber deutet auf die Sklaverei hin – und somit zurückzukehren zur Auffassung der alten Griechen, nämlich die eigentliche Tätigkeit des freien Menschen liege darin, sich um politische Angelegenheiten zu kümmern, was üblicherweise Macht und Krieg bedeutet. Würden wir dies tun, käme es einem Verrat an der Geschichte gleich, die nicht mehr in eine bessere Zukunft führt, sondern zu den Verfehlungen der Vergangenheit zurückkehrt. Es hat sich nämlich über die Jahrhunderte klar gezeigt, dass die Menschen zur Politik vollkommen unfähig sind und Macht und Krieg so unmenschlich handhaben, dass sie eher sich selbst zerstören, als sich um das Gemeinwohl zu kümmern. Wenn die Geschichte uns etwas mit Sicherheit lehrt, dann ist es, dass der Mensch der Droge Macht nicht entkommen kann und dass Macht fast immer die Seele korrumpiert. Die Politik sollte man vielleicht zusammen mit der Arbeit Robotern überlassen, denn wenigstens treffen die Maschinen Entscheidungen auf Basis von Evidenz und nicht auf Basis von Vorurteilen, Bauchgefühlen, Intuitionen, Eingebungen, Gewohnheiten und sehr begrenzten persönlichen Erfahrungen. Wenn man die Menschen in den Fabriken und Büros fragen würde, ob sie nicht lieber einen Roboter als Boss hätten: Bestimmt würden die meisten den Roboter wählen.[1] Wenn es also so aussieht, als ob man nicht nur die Arbeit, sondern auch die Politik Robotern überlassen soll, bleibt nur noch die Kunst übrig als eigentliches Tätigkeitsfeld des menschlichen Handelns. Was aber ist Kunst?

Kunst hat von jeher die Aufgabe, das Schöne zu verkörpern. Schönheit aber ist eine launische Göttin, denn sie zeigt sich in unzähligen Formen, die im Lauf der Zeit immer anders werden. Heute, in der modernen Welt, hat sie sich vollkommen zurückgezogen und die Kunst der Hässlichkeit und der puren Willkür übergeben. Heute ist alles Kunst, was dazu erklärt wird, was weder als Wahnsinn noch Verbrechen abgestempelt wird und somit, was trotz allem einen Platz in der Gesellschaft ergaunert. L’art pour l’art, wie es heisst. Natürlich gibt es auch einen Kult um Kunst herum. Diese Werke, ob es sich um Musik, Malerei, Bildhauerei, Architektur – um was immer es sich handelt ist egal –, werden «klassisch» genannt und mit öffentlichen Geldern in Palästen und Konzerthallen «religiös» gefeiert, zumeist von den Wohlhabenden dieser Welt. Will man das Ursprüngliche des menschlichen Handelns entdecken, dann sieht es aus, als ob die alte Aufteilung von Arbeit, Politik und Kunst nicht helfen würde. Wo können wir dann suchen?


 [1] Interessanterweise hat sich Nussquammers Vermutung bestätigt. https://www.forbes.com/sites/tracybrower/2020/10/07/study-shows-people-prefer-robot-over-their-boss-6-ways-to-be-a-leader-people-prefer/?sh=56a8a1eb45f4.


 

Die Weisheit der Steine

Tatsächlich liegen die Anfänge der Menschheitsgeschichte weit vor den alten Griechen zurück, sogar weiter zurück als vor sonst irgendeiner «historischen» Zivilisation. Wir müssen zu den wirklichen Anfängen zurückgehen. Wir reden von einer Zeit sogar vor der Erscheinung des Homo sapiens, der das Licht des Tages ja erst um ca. 300’000 Jahre vor unserer Zeit erblickte. Es ist blosses Wunschdenken, zu meinen, der Mensch, ausgestattet mit einem grossen Hirn und unglaublichen linguistischen Fähigkeiten, sei gleichsam «über Nacht» aus irgendwelchen tierischen Vorfahren entstanden. Diese fast «kreationistisch» anmutende Auffassung, welche das Selbstbild des heutigen Menschen so schön warm föhnt, hat nichts mit Evolution tun. Es gibt keine Revolution, nur Evolution. Lange bevor der Homo sapiens erschien, haben unser Vorfahren Werkzeuge angefertigt und die Natur verändert. Sie haben damit sich selber verändert, oder besser gesagt, sie haben sich auf eine Veränderung eingelassen und die entscheidenden Schritte getan, um von der Tierwelt in eine andere Welt überzutreten, eine Welt, die nichts mit Dingen zu tun hat, sondern mit Sinn. Der Eintritt in die Welt des Sinns ist nicht über Nacht geschehen, sondern über viele Jahrtausende, wenn nicht Millionen von Jahren in kleinen Schritten mit kleinen Handlungen. Ein Beispiel ist die Steinaxt. Dieses einfache Werkzeug ist nicht nur vielleicht das erste Stück «Kultur», das es überhaupt gab, sondern das, was uns am meisten über das ursprüngliche Handeln der Menschheit sagt. Wenn wir uns fragen, was menschliches Handeln ist, dann kann uns vielleicht die Steinaxt helfen, diese Frage zu beantworten.

Was sagt uns die Steinaxt? Zunächst handelt es sich weder um ein blosses Werkzeug – im Gegensatz zu einem Kunstwerk – noch um Kunst – im Gegensatz zu einem bloss funktionalen Gegenstand. Es ist auch nicht ein Stück Kultur im Gegensatz zu Natur. Schliesslich ist es nicht etwas, das ohne den Menschen als blosses Ding existieren kann. Es ist kein Objekt im Gegensatz zu einem Subjekt und demnach auch nicht etwas bloss Gemachtes im Gegensatz zu einem Macher. Die Steinaxt ist gar nichts, das spätere Zeitalter schon auf irgendwelche Art und Weise klassifiziert haben, um ihre eigene Weltsicht und Ordnungsbedürfnisse zu befriedigen. Das «Bauen» oder das «Machen» der Steinaxt ist auch nicht ein instrumentelles Handeln, das auf ein Ding gerichtet ist. Wir müssen also unsere herkömmlichen Begriffe beiseitelegen und versuchen, die Axt zu sehen als das, was sie ist.[1]

Nehmen wir an, dass ein bestimmter Hominide vor Millionen von Jahren einen bestimmten Stein aufhob, der eine bestimmte Form, ein bestimmtes Gewicht, eine bestimmte Grösse usw. hatte, die allesamt nahelegten, anboten, anstiessen, vorschlugen, dass der Stein auf eine bestimmte Weise in der Hand gehalten und vom Arm auf eine bestimmte Weise geschwungen wurde, sodass ein Tier getötet, ein Feind verscheucht, ein Stück Holz gespalten wurde usw. Andere Steine taten dies nicht. Verschiedene Arten, den Stein in der Hand zu halten und den Arm zu schwingen, bewirkten dies auch nicht. Dieser spezielle Stein und andere ihm ähnliche suggerierten oder «deuteten» auf einen Zusammenhang mit bestimmten Bedürfnissen, anatomischen Strukturen und Fähigkeiten des Hominiden, und zwar taten sie dies über viele Hunderttausende von Jahren. Es entstand eine Art des Zusammenwirkens zwischen Hominid und Stein und gewissen Tieren oder Stücken von Holz, das etwas schuf, das es vorher nicht gab, nämlich einen «Jäger» oder einen «Krieger», der eine steinerne «Axt» schwang.

Diese einzigartige und aussergewöhnliche «Kooperation» zwischen bestimmten Steinen und Hominiden veränderte nicht nur das Wesen, die Identität und das Verhalten der Hominiden, sondern auch das Verhalten und die Identität der Steine, die nun nicht mehr nur Steine waren, die auf dem Boden herumlagen, sondern «Äxte». Die Axt ist kein blosser Stein, und ein Jäger, der eine Axt schwingt, ist kein blosser Hominid. Die Axt und der Jäger ermöglichen und bedingen sich wechselseitig. Es gäbe keinen Jäger ohne die Axt und keine Axt ohne den Jäger. Zusammen bilden sie etwas, das die Nienetwiler eine Sammlung oder ein Kollektiv nennen. Eine Sammlung ist eine gegenseitige Konditionierung von Urmensch und Nichtmensch – und später Mensch und Nichtmensch –, die beide zu etwas macht, was keiner von beiden vorher war. Diese gegenseitige Konditionierung, in der wir die Konstruktion von Sinn verorten, nennen die Nienetwiler das «Sammeln». Das Sammeln ist die eigentliche Tätigkeit des Menschen. Aber nicht nur des Menschen, da wir zu dieser Zeit gar nicht mit Menschen zu tun haben. Das Sammeln ist vielmehr eine Tätigkeit, die von allem, was es gibt, ausgeübt wird: vom Stein ebenso wie von der Hand des Hominiden und ebenso von bestimmten Tieren oder Holzstücken. Alle sind gleichberechtigt an der Sammlung beteiligt. Alle sind «Akteure» des Sammelns. Alle sind «Konstrukteure» von Sinn bzw. werden vom Sinn konstruiert.

Was das Sammeln vom tierischen Gebrauch von «Werkzeugen» – der durchaus bekannt ist – unterscheidet, ist, dass Tiere, wenn sie einen Stein oder einen Stock aufheben und ihn zum Aufbrechen einer Kokosnuss oder zur Nahrungssuche benutzen, ihn wieder fallen lassen und weiterziehen. Die tierische Nutzung von Werkzeugen ist «episodisch». Die Steinaxt mag auch von Zeit zu Zeit zurückgelassen worden sein, aber es gab noch etwas anderes, das sowohl den Urmenschen als auch einen bestimmten Stein «festhielt», das einen Unterschied machte. Paradoxerweise kann man sagen, dass im Moment, in dem ein Jäger eine Steinaxt schwingt, ihm das blosse Ding im wahrsten Sinn des Wortes «aus der Hand fällt». Mit anderen Worten: Der Stein oder der Stock ist nicht länger ein Werkzeug für den Moment, also nur so lange, wie er in der Hand gehalten wird. Denn auch wenn sie nicht in der Hand gehalten wird, bleibt die Steinaxt, was sie ist. Sie verschwindet nicht in dem Moment, in dem sie nicht mehr benutzt wird, wie dies für Tiere der Fall ist.

Das Sammeln ist also nicht bloss eine Tätigkeit des (Ur-)Menschen, sondern eine Tätigkeit von etwas, das Menschen wie auch Steine, Tiere, Holzstücke etc. zusammenhält und zu etwas macht, das vorher nicht existiert hat. Das Sammeln verändert alles. Wir kehren nicht zu dem zurück, was wir waren, bevor wir die Steinaxt benutzten. Wir bleiben ein «Jäger» oder ein «Krieger», auch wenn wir den Stein nicht in der Hand halten. Der Affe hingegen lässt den Stein fallen, wenn dieser seinen Zweck erfüllt hat. Es hat sich nichts verändert. Weder das Tier noch der Stein sind etwas anderes geworden, als sie vorher waren. Stein und Tier definieren sich nicht gegenseitig. Sie werden nicht zusammengehalten in einer Sammlung, die mehr und anders ist als das, was sie vorher waren. Etwas hält an allen Beteiligten in einer Sammlung fest und verbindet sie zu einem Kollektiv, das sie alle nunmehr sind. Was ist es, das alle festhält und verbindet? Dies ist die Frage, die beantwortet werden muss, wenn wir das Wesentliche des menschlichen Handelns entdecken wollen. Ich behaupte, die Antwort auf diese Frage liegt im Begriff des Designs.

 

Design

Nach Auffassung der Nienetwiler ist das Sammeln die eigentliche Tätigkeit des Menschen. Dabei muss immer betont werden, dass die Menschen allein nichts tun, sondern alle an einer Sammlung Beteiligten die Tätigkeit gleichberechtigt ausführen. Man könnte eher sagen, es wird durch den Menschen und alle anderen Dinge «gesammelt». Um diese eigenartige Art des Handelns zu verstehen und auch zu verstehen, was dies mit dem heutigen Begriff des Designs zu tun haben könnte, schauen wir uns das Sammeln genauer an.

Damit der Stein zur Steinaxt werden kann, ist vieles zu beachten. Der Stein muss auf die richtige Weise mit einer Hand verbunden sein. Nicht jede Hand kann einen Stein halten oder schwingen – nur bestimmte Tiere haben die anatomischen Voraussetzungen dafür. Die Hand muss den Stein nicht nur richtig halten, sondern auch der Arm muss ihn auf bestimmte Weise schwingen. Die Art und Weise, wie Hand und Arm den Stein halten und schwingen, ist nicht angeboren oder automatisch, sie muss erlernt werden, und es ist der Stein, der sie lehrt. Der Stein verbindet Hand und Arm mit bestimmten Arten, ihn zu halten und zu schwingen. Seine Grösse, seine Beschaffenheit, seine Form und sein Gewicht suggerieren, ermutigen oder fordern sogar, dass Hand und Arm sich auf bestimmte Weise verhalten und nicht auf andere. Aber das ist nur die eine Seite der Verbindung. Der Stein verbindet sich auch mit einzelnen Tieren und Holzstücken. Nicht alle Tiere lassen sich mit dem Stein töten und nicht alle Holzstücke damit spalten. So wie der Stein Hand und Arm anleitet, so führen bestimmte Tiere und bestimmte Holzstücke den Stein. Dieser muss eine gewisse Schärfe haben, eine Schneide, die schneiden kann. Das führt dazu, dass der Stein von anderen Steinen bearbeitet wird, sodass aus einem spitzen Ende eine Schneide wird. Damit eine Steinaxt entsteht, wirken alle Beteiligten, zugleich Menschen und Nicht-Menschen, zusammen und tun etwas. Zu handeln ist also kein bloss instrumentelles Handeln, kein blosses Wirken auf ein passives Objekt. Handeln ist immer zugleich instrumentell und interaktiv, zugleich subjektiv und objektiv, zugleich individuell und kollektiv, und vor allem bedeutet Handeln, allem Beachtung zu schenken, allem eine Stimme zu verleihen, alles mitwirken zu lassen. Und dies ist genau das, was gutes Design tut.

Alle Beteiligten «tun» etwas, damit eine Sammlung zustande kommt. Handlungskompetenz ist nicht nur verteilt, sondern sie ist symmetrisch verteilt, d. h. es gibt keinen qualitativen Unterschied zwischen dem Handeln des Hominiden und dem Handeln des Steins oder der Tiere oder des Holzes. Alle tun das Gleiche: Sie schaffen Verbindungen. Dies ist, was die Nienetwiler mit dem Wort «sammeln» meinen. Was die verschiedenen Beteiligten in einem Kollektiv tun, ist die Konstruktion von Verbindungen, Beziehungen oder Schnittstellen. Diese Verknüpfungen verbinden nicht nur bestimmte Steine mit bestimmten Händen und bestimmten Tieren und Holzstücken, sondern auch mit allen anderen Steinen, Händen, Tieren und Hölzern, die nicht an diesem bestimmten Kollektiv beteiligt sind. Zu wissen, welches der richtige Stein ist und wie man ihn richtig hält und schwingt, bedeutet zu wissen, welche Steine nicht geeignet sind und wie man die, die geeignet sind, nicht hält und schwingt. Es sind dieses Wissen und die damit zusammenhängenden Tätigkeiten, die ich mit dem heutigen Begriff des Designs bezeichnen möchte. Design ist das, was Menschen tun, wenn sie nicht mehr arbeiten müssen. Design ist das, was Menschen und auch Nicht-Menschen tun, wenn sie «sich sammeln» und Kollektive bilden. Die Roboter werden die Arbeit übernehmen, aber was den Menschen übrigbleibt und was die Roboter zusammen mit den Menschen machen, ist Design.

Zu sagen, dass die Menschen zu Designern werden, wenn die Roboter die Arbeit übernehmen, heisst nicht, dass sie sich einfach mit der Verschönerung oder gar Dekoration von Dingen beschäftigen, welche die Roboter produzieren. Design im ursprünglichen Sinn bedeutet nicht, dass funktionalen Gegenständen eine ästhetische Form aufgepfropft werden. Design als Grundhaltung des Menschen gegenüber der Welt und auch gegenüber sich selbst hat nichts mit Ästhetik im üblichen Sinn des Wortes zu tun. Design, verstanden als bestimmendes Merkmal des Handelns und des Lebensvollzugs des Menschen in der Welt, hat mindestens fünf Eigenschaften, die es zum Wesentlichen des menschlichen Handelns macht.

Erstens ist Design «bescheiden», im Gegensatz zur Hybris von Revolution, Modernisierung, Fortschritt und souveräner Entscheidung. Prometheus wird oft als der mythische Held zitiert, der das Feuer von den Göttern stahl und es den Menschen gab. Sein Weg war direkt und rücksichtslos. Er nahm sich, was er wollte, und musste, wie wir wissen, die Konsequenzen tragen. Die Idee des bescheidenen Konstrukteurs erinnert dagegen eher an die Geschichte von Dädalus als jene des Prometheus. Dädalus war der Handwerker, der nie einen geraden Weg zu seinem Ziel einschlug, sondern immer kluge Umwege nahm und dabei die Hilfe vieler Dinge in Anspruch nahm. Dädalus war ein Konstrukteur und kein Held. Seine Haltung war bescheiden und er respektierte, was die Dinge beim Konstruieren von Lösungen zu bieten hatten. Wenn wir einen neuen Mythos brauchen, um den Menschen der Zukunft zu beschreiben, dann wäre Dädalus unser Held und Vorbild und nicht Prometheus. Dädalus war ein Designer.

Die zweite Eigenschaft von Design im Gegensatz zur Arbeit ist, dass Design aufmerksam für Details ist. Der Revolutionär, der heroische Macher übergeht die Details mit Arroganz und Selbstsicherheit. Dies ist typisch für den modernen Menschen, der sich als Held und Macher seiner eigenen Geschichte versteht. Das Ideal des Fortschritts, der Aufklärung, der Kritik und des Menschen, der sein eigenes Schicksal gestaltet, das den modernen Geist definiert, war nie Teil dessen, was es bedeutet, etwas gut zu gestalten. Im Gegenteil: Design achtet minutiös auf die Details von allem, was es anfasst. Das bedeutet nicht unbedingt, dass Design nicht in irgendeinem Sinn «revolutionär» sein kann, aber wenn es das ist, dann auf eine Art und Weise, die nicht alles, was vor ihm war, mit Füssen tritt und viele Aspekte der Gegenwart vernachlässigt, indem sie einfach beiseitegeschoben werden, um schnell in die vermeintlich bessere Zukunft zu marschieren. Machen ist nicht länger ein heroischer Akt, sondern ein Akt, der viele Dinge, viele Details und viele Stimmen berücksichtigt. Gut gemacht, d. h. gut gestaltet zu sein, bedeutet heute, dass Planung und Entwicklung immer in enger und offener Kommunikation mit allen Beteiligten, Stakeholdern, Interessierten, Nutzern reagiert und in der Lage ist, sich schnell und flexibel auf veränderte Bedürfnisse und Präferenzen einzustellen und sich anzupassen.

Die dritte Eigenschaft von Design ergibt sich aus seiner untrennbaren Verbindung mit Sinn. Design zielt, wie jede künstlerische Bemühung, auf Bedeutung ab. Artefakte, Lösungen, Programme, Prozesse, Organisationen, ja, was auch immer gestaltet wird, verlangt nach Interpretation. Dinge sind nicht blosse Tatsachen, sie sind keine Objekte, die einfach gegeben sind, sondern Knotenpunkte in Sammlungen von Beziehungen, die oft umfangreich, komplex, widersprüchlich, offen und unbestimmt sind. Dies alles ist Sinn. Dies ist das, was Design bezweckt. Nicht Gebrauchsgegenstände, nicht Produkte oder Güter sind das, was Design interessiert, sondern der Sinn, der alle Dinge zu dem macht, was sie sind. Sinnvolles Design ist gutes Design. Design ist am Ende nichts anderes als die Konstruktion von Bedeutung. Es ist diese Aktivität, die eine Steinaxt, welche ein Jäger schwingt, von dem Stein unterscheidet, den ein Affe aufhebt und benutzt. Der Affe ist kein Designer. Design ist Bedeutung in Aktion statt Aktion ohne Bedeutung.

Die vierte Eigenschaft von Design liegt darin, dass Design ein anderes Verständnis für das Wesen des Handelns mit sich bringt. Handeln ist nie «revolutionär» in dem Sinn, dass es bei null beginnt und etwas vollkommen Neues erschafft. Design steht im Gegensatz zu einem Handlungsbegriff, der auf Schöpfung, Revolution und Autonomie basiert. Design kann daher niemals Kritik im modernen Sinn von Descartes’ methodologischem Skeptizismus oder Kants Aufruf zur radikalen Selbstbestimmung sein. Die Tradition der kritischen Vernunft ist keine Tradition des Designs. Dieser Aspekt des Designs ähnelt dem, was Heidegger darüber sagt, dass das menschliche Dasein in die Welt «geworfen» ist und durch die gegebene historische Situation notwendig bedingt wird. Was für Heidegger die Faktizität, Geschichtlichkeit und Endlichkeit des Daseins ausmacht, unterscheidet das als Design verstandene Handeln grundlegend von den üblichen Auffassungen des heroischen und revolutionären Handelns, die auf Willensfreiheit, souveräner Entscheidung, Selbstbestimmung und Autonomie beruhen. Das autonome rationale Subjekt der europäischen Moderne kann vielleicht ein Revolutionär werden, aber es kann kein guter Designer sein.

Der Designer ist bescheiden genug, um viele Dinge, viele Details, all ihre möglichen Bedeutungen und deren Herkunft zu berücksichtigen und durch diese aufmerksame Berücksichtigung das Sammeln geschehen zu lassen. Das bedeutet, dass niemals nur etwas, ein Objekt, ein einzelnes Artefakt, eine einzelne Entität gestaltet wird. Design zielt vielmehr immer auf die Konstruktion einer Sammlung mit vielen Beziehungen, die sich in alle Richtungen verzweigen, in die Zukunft ebenso wie in die Vergangenheit. Design bedeutet, etwas in eine Sammlung aufzunehmen und damit nicht nur ein bestimmtes Ding zu konstruieren, sondern immer ein ganzes Netzwerk neu zu gestalten. In der Tat, Design ist Vernetzung. Dies ist, was die Nienetwiler unter dem Begriff «Sammeln» verstehen.

 

Die fünfte Eigenschaft des Designs liegt darin, dass das Design notwendigerweise eine ethische Dimension beinhaltet, die mit der Frage nach «gutem» Design verbunden ist. Sobald klar ist, dass das wesentliche Handeln des Menschen Design ist, kann das Sollen nicht länger ein Ideal sein, nach dem die Realität streben muss, sondern es wird zu einer Qualität des Realen. Wann immer Sinn sich selbst konstruiert, geht es um Design. Wenn gesagt werden kann, dass die Nienetwiler überhaupt eine Ethik oder Moral hatten, dann war es dies. Denn das Sammeln war für die Nienetwiler eine ethische Angelegenheit, eine Frage der Verantwortung. Dies leitet sich davon ab, dass für sie jedes Ding eine «Stimme» hat und etwas zur Versammlung beitragen könnte. Wir sprechen hier nicht mehr über Ethik und Moral als eine Art Add-on zu den funktionalen Aktivitäten des modernen Lebens. Es geht nicht um «gute» Wirtschaft, «gute» Forschung, «gute» Bildung etc. Es geht nicht um die übliche Moral. Die moderne Gesellschaft versucht überall, jedem Beruf, jeder sozialen Handlung eine besondere Ethik anzuhängen. Aus dem Blickwinkel einer Welt, in der das wesentliche Handeln des Menschen nicht mehr Arbeit ist, sondern Design, werden alle Funktionen dem Design untergeordnet und nicht umgekehrt. Gutes Design bekommt eine völlig andere Bedeutung als jene, die es heute hat. Heidegger mag recht gehabt haben, als er das Wesen der Technik als Gestell bezeichnete, also die Unterordnung aller Tätigkeit unter Funktionalität. Aber das Gestell ist nicht die Sammlung. Heideggers Technikkritik bezog sich nicht auf das, was die Nienetwiler mit Handwerk und mit dem Sammeln meinten. Er bezog sich auf die Dominanz des systemischen Ordnungsparadigmas in der modernen Welt. Die Nienetwiler Kultur deutet auf eine andere Welt, die durch andere Bezugspunkte als das Primat der Funktionalität wie autonome rationale Subjekte, die strikte Unterscheidung zwischen Gesellschaft und Natur, die unüberbrückbare Kluft zwischen Subjekten und Objekten und die konstitutive Unterscheidung zwischen dem, was ist, und dem, was sein soll, gekennzeichnet ist. Wenn es eine Ethik für diese Welt geben soll, dann ist Design vielleicht das, was als moralisches Handeln verstanden werden muss. Dies ist die Bedeutung von Nienetwil heute und in der Zukunft. Das Ende der Arbeit ist der Anfang von Design. Designer aller Länder, vereinigt euch!


[1] Notiz der Übersetzer: An dieser Stelle könnte man auf eine gewisse Ähnlichkeit zu dem, was Bruno Latour «Matters of Concern» nennt, hinweisen. Dies ist auch das Thema des Textes von Peter Friedrich Stephan in diesem Heft. Da Nussquammer nicht explizit auf Latour verweist, können wir eine Verbindung nur vermuten.


  1. Inhaltsverzeichnis CRN 2-2021-1
  2. Editorial
  3. Einleitung der Herausgeber – Utopie als Gesellschaftsdesign
  4. Peter Friedrich Stephan über Design
  5. Das Ende von Arbeit und der Anfang von Design
  6. Biografie Amot Nussquammer jun
  7. Briefwechsel Nussquammer – Arbogast
  8. Alaju: Die Wörter «be», «gabe», «tobe»
  9. Grabungsbericht und Fundinterpretation N1/1 «Skandi-Stein»
  10. Biografie Patrizia Am Rhyn
  11. The Alaju Settlement - Teil 2
  12. Ausblick CRN N° 3-2021/2
  13. Impressum / Autorin und Autoren CRN 2