Briefwechsel Nussquammer – Arbogast

Briefwechsel von Amot Nussquammer sen. und d’Aciel Arbogast zum Thema Dinge (gabe) und Bildung (tobe) und deren Bedeutung für das Verständnis menschlichen Handelns als Design

 

Budapest, Oktober 1901

Werter Amot, ich grüsse dich

Unser Zusammenkommen in Wien war eine Freude, umso mehr, als ich in Euch einen Kollegen gefunden habe, der sich ebenfalls mit der Nienetwiler Kultur beschäftigen will.

Dass ich Euch alleine im Garten des «Kaiserhof» habe sitzen lassen, müsst Ihr mir entschuldigen. Als ich gerade reingehen wollte, um die Rechnung zu begleichen, da hörte ich einen Eiswagen auf der Gasse und wollte uns noch ein Eis besorgen. Ich lief hinter dem Eiswagen her, aber irgendwann war er mir aus den Augen. Ich hoffe, Ihr hattet keine Probleme mit dem Hotel. Am besten ist es immer, jede Bekanntschaft mit mir zu leugnen, denn fürwahr, ich habe zu viel des Blutes meines Vaters in mir.

Doch ich bin Euch noch eine Antwort schuldig, und ich hoffe, dass eine allfällige Zornesröte in Eurem Gesicht nun Wohlwollen Platz macht.

Ihr hattet mich gefragt, weshalb ich den «Dingen» gabe sagen würde. Nun, das ist einfach erklärt. Mit gabe ist nicht ein Geschenk gemeint, wie in der deutschen Sprache. Also in gewisser Weise schon, aber um dies zu klären, muss ich, verzeiht, etwas ausholen.

Während das deutsche Wort Gabe von geben abgeleitet ist, stammt das Wort gabe, das ich verwende, von der Sprache Alaju ab, welche, wie ich Euch ja erklärte, aus der Nienetwiler Kultur stammt. Wir benutzen es statt eines Wortes wie «Ding», meinen aber viel mehr damit.

Das Wort gabe ist aus den beiden Wortstämmen *ga-, also etwa «Sammlung», und *be-, etwa «Möglichkeiten», zusammengesetzt. Es bedeutet also ungefähr: Sammlung/Versammlung von Möglichkeiten.

Interessant ist übrigens, dass sich das Wort «Ding» in seiner ursprünglichen Bedeutung «Thing»  – also Versammlung, Beratschlagung, Übereinkommen – bedeutet.

Mir scheint, dass es dem Menschen gut anstehen würde, sich dessen wieder einmal bewusst zu werden. Dass «Ding» von einem Übereinkommen herrührt und nicht von einem «dingen» im Sinne eines Verpflichtens. Das Alaju-Wort gabe fasst für uns jedoch noch mehr zusammen, denn es heisst ja nicht einfach Sammlung von Möglichkeiten, sondern auch Versammlung (Thing) der Möglichkeiten.

Teilt mir mit, wenn Ihr dieser Sammlung von Informationen und Möglichkeiten weitere hinzufügen wollt. Ihr habt ja immerhin ein Philosophiestudium hinter Euch gebracht, und ich bin sicher, Plato, Kant oder ein anderer Gelehrter, Euch eingeschlossen, machte sich zu diesen Dingen auch schon Gedanken.

Wir sehen uns wieder, wenn ich aus St. Petersburg zurück bin. Eure Antwort könnt Ihr dorthin vorausschicken. Ich werde im Grand Hotel Europe weilen, bevor ich nach Wyborg weiterreise.

Meine besten Wünsche und Grüsse

Aciel

 


 

Zürich, Februar 1902

Verehrter Arbogast

Der Anlass dieses Schreibens werden Sie zweifellos in den Gesprächen, die wir bei unserem Treffen in St. Peterburg der erstaunlichen Tatsache widmeten, dass die Lebensweise der Nienetwiler, sofern diese aus den archäologischen Befunden bekannt ist, über Jahrtausende, wenn nicht länger, konstant geblieben ist und nicht den Entwicklungen von dem, was, wohl euphemistisch, «Zivilisation» benannt wird, durchliefen, bis zur Gegenwart und somit ein Zeugnis dafür ablegen, dass wenn das Zusammenleben des Menschen auf soliden Grundlagen errichtet wird, es die Wechselfälle der Geschichte unbeschädigt übersteht. Aus dieser Tatsache entsteht die Frage, wie die Nienetwiler ihre Lebensweise von Generation zu Generation über einen derart langen Zeitraum vermitteln konnten, ohne dass die Versuchungen, an den angeblichen Errungenschaften der zivilisatorischer Evolution teilzunehmen, Überhand gewann und die Werte und Praktiken der uralten Traditionen aufgegeben wurden, was unvermeidlich zum Zerfall der kulturellen Einzigartigkeit der Nienetwiler, wie wir diesen Zerfall vor unseren heutigen Augen bedauerlich überall sehen, geführt hätte.

Wie Sie, verehrter Arbogast, noch besser als ich, wissen, beruht die Nienetwiler Kultur auf dem Sammeln, dem Vermehren, den Verhandlungen der Kollektive und den damit zusammenhängenden Praktiken und Ideen. Wo aber – und hiermit stelle ich die Frage an Sie, welche den Anlass dieses Schreibens bildet – liegen die Wurzeln und die Auffassungen ihrer Praktiken der «Bildung»? Wir wissen, oder wenigstens wäre er mir noch nicht bekannt, dass die Nienetwiler keinen Begriff für Bildung oder das, was in der modernen Welt «Erziehung» genannt wird, hatten. Daraus ist zu entnehmen, dass die Nienetwiler das, was wir «Sozialisation» nennen, zusammen mit dem ganzen aufwendigen und komplizierten Apparat, der unser im Laufe der Zeit dazugekommenes Erziehungswesen ausmacht, nicht kannten, und –dies ist das Interessante dabei – offenbar nicht brauchten. Also meine Frage lautet: Wie haben die Nienetwiler das verstanden, erlebt und praktiziert, was wir als eine besondere Beschäftigung des Lebens und als besondere Aufgabe der Gesellschaft betrachten, nämlich «Erziehung»?

Einen Hinweis auf eine mögliche Antwort wage ich vorwegzunehmen. Vor allem deswegen, weil dieser Hinweis, so meine ich, darin zu finden wäre, was Sie in Ihrem damaligen Schreiben zum Thema «gabe» in der Nienetwiler Kultur festgehalten haben. Da die Nienetwiler offensichtlich nicht von sich als von einem Wesen, das grundsätzlich verschieden wäre von allen anderen Wesen, dachten, könnten sie, wie Sie, verehrter Arbogast, damals geschrieben haben, nicht von Dingen als von irgendwelchen dem Menschen gegenüber völlig andersartigen Wesen denken und handeln. Stattdessen, und so verstehe ich Ihre Bemerkungen zum Nienetwiler Wort «gabe», bezeichnen die Nienetwiler alles, inklusive sich selber, als Sammlung, wobei es erstaunlicherweise auf die Tätigkeit des Sammelns und nicht auf irgendwelchen jeweiligen Bestand des Gesammelten ankommt. Dies, weil die Tätigkeit des Sammelns zu unendlichen Möglichkeiten offen ist und über jede jeweilig erreichten oder vorliegenden Werkzeuge, Bauten, Bepflanzungen etc., kurz alles, was wir üblicherweise als «Dinge» bezeichnen, hinausgeht. Damit ist das jeweilige Übereinkommen nur ein punktuelles und vorübergehendes Ergebnis von andauernden Verhandlungen.

Die grundsätzliche Offenheit der Nienetwiler zur Partizipation aller Wesen an den Verhandlungen – das Sammeln und die Sammlungen, welche ihre Welt ausmachen – ist also das, was den Kern ihres Zusammenlebens ausmachte und somit das alleinige «Kulturgut», das sie an künftige Generationen weitergegeben haben bzw. «weitergeben» wollten; ganz im Gegensatz zu dem, was wir modernen Menschen mit der «Weitergabe» von Kultur unter dem Begriff «Erziehung» beabsichtigen, das heisst das Erreichen eines nach aristotelischen Vorgaben klar definierten Zustands der menschlichen «Perfektion», worin alle Möglichkeiten erfüllt sind, gaben die Nienetwiler an die folgenden Generationen die Tätigkeit des Sammelns und damit notwendigerweise zusammenhängende Versammlung von Möglichkeiten weiter. Dies müsste, wenn ich die Nienetwiler richtig verstehe, in jedem «Ding» ersichtlich sein. Das Sichtbarmachen von Möglichkeiten wäre dann das Wesentliche am menschlichen Handeln, also eigentlich das, was den Menschen auszeichnet, und nicht, wie die alten Griechen meinten, die Vernunft, zumindest nach Nienetwiler Auffassung. Nun frage ich mich, und ich frage Sie, verehrter Freund, auch, was bedeutet diese Erkenntnis über unser aller Herkunft für unsere heutige Art und Weise, junge Menschen zu «erziehen»? Ist es nicht an der Zeit, die verloren gegangenen Praktiken der Nienetwiler in der heutigen Welt wieder zum Wirken zu bringen?

Auf Ihre Antwort bin ich gespannt.
Ihr Nussquammer

 


 

April 1902

Werter Amot

Es freut mich, Sie wieder wohlbehalten in der Heimat zu wissen, und hoffe, dass Ihr Umzug nach Zürich gut verlaufen ist!

Ja, das ist ein interessantes Thema, das Sie da ansprechen, und Ihre Verbindung zum Alaju-Wort «gabe» (Sammlung von Möglichkeiten) ist durchaus richtig. Genauso wird auch das kleine Kind, der junge Mensch gesehen. Es ist eine Sammlung von Möglichkeiten. Die Nienetwiler Kultur ist davon geprägt, dass das Volk stets unterwegs war. Sie sind, um es einmal so zu sagen, «Traveler» und wurden daher seit dem Mittelalter oft auch mit den Tsigan, den Jenischen, Sinti und Roma etc. oder in Ländern ausserhalb Europas mit anderen Nomadenstämmen gleichgesetzt. Die kleinen Gruppen, in denen die Skandaj, also die Leute der Nienetwiler Kultur, reisten, waren recht klein – selten grösser als dreissig, vierzig Menschen. Wenn nun also eine so kleine Gruppe unterwegs ist, dann ist es nicht möglich, Kinder zur Schule zu schicken, wie dies heute die Menschen der westlichen Welt tun. Die jungen Menschen werden nicht darauf ausgebildet, in ihrem Erwachsenenalter Geld verdienen zu können, sondern darauf, sich als Teil des Kollektivs verwirklichen zu können. Drei Dinge sind wichtig zu wissen:

  1. In der Nienetwiler Kultur wird kein Unterschied zwischen Mann und Frau, Mädchen und Junge gemacht. Haushalte wie hier, also ein Vater, eine Mutter und die Kinder, sind eher ungewöhnlich. Vielmehr ist es so, dass Kinder dort aufwachsen, wo es ihnen am besten gefällt. Natürlich sind die, welche das Kind gezeugt und geboren haben, in gewissem Masse mehr verantwortlich als das Kollektiv, aber sobald ein Kind die Mitglieder des Clans kennt, zeigt es auch deutliche Neigungen, sich hier oder dort öfters aufzuhalten. Es kann sein, dass es das tut, weil dieser oder jene besonders unterhaltsam ist oder ein hübsches Lämmchen mit sich führt, oder es kann sein, dass die Person oder Zeltgemeinschaft einfach besonders interessant ist, weil sie zum Beispiel ein Handwerk ausübt. Dieses sich Zuwenden an Personen oder Zeltgemeinschaften geschieht hauptsächlich in den wenigen Monaten des Sommer- beziehungsweise Winterlagers, in denen nicht gereist wird und die Zeit da ist, sich zum Beispiel handwerklich zu betätigen oder die kleine Ernte einzufahren, die die Voraus-Gruppen angepflanzt haben (dort, wo dies gemacht wird).
  2. Die Reiserei der Skandaj hat zur Folge, dass sie es mit verschiedenen Kulturen und Landschaften zu tun bekommen. Jede einzelne wird ebenfalls, wie alles andere auch, als «gabe» gesehen. Diese Möglichkeiten wollen erkundet und gesammelt werden. Die jungen Menschen erkennen, dass es nicht nur ihre Gruppe, Zeltgemeinschaft oder ihren Clan gibt. Sie treffen Nicht-Skandaj und treffen Menschen aus anderen Clans der Nienetwiler Kultur, tauschen sich mit ihnen aus und sammeln Wissen und Erfahrung. «kwasi», so wird das in der Nienetwiler Kultur gebräuchliche Äquivalent zu Wissen genannt, hat seinen Wortursprung in *ku-, was «erkunden» bedeutet. Wissen ergibt sich also durch das Erkunden, Herausfinden, Erforschen und Erfühlen und durch die Möglichkeiten, die diese Erkenntnisse und Erfahrungen erschliessen. Die jungen Menschen lernen schnell, dass erstens Wissen immer nur eine vorübergehende Erkenntnis ist, die jederzeit revidiert oder ergänzt werden kann, und zweitens, dass es weniger wichtig ist, wie man sammelt, als vielmehr was man mit dem Gesammelten anstellt.
  3. In den oben erwähnten Sommer- und Winterlagern («garth» genannt) wie auch auf ihren Reisen begegnen die Skandaj anderen Clans. Dies wird zum Anlass genommen, dass sich zum Beispiel Partnerschaften ändern oder junge Menschen von einem zum anderen Clan wechseln, weil in diesem zum Beispiel jemand ist, der ein gewisses Handwerk oder Wissen weitergeben kann. So werden Wissen und Erfahrungen, «Sammlungen», unaufhörlich zwischen den Clans getauscht.

Eine besondere Form des Unterrichtens gibt es in der Nienetwiler Kultur nicht. Es gibt weder Lehrbücher noch Prüfungen und schon gar nicht werden junge Menschen, wie das hierzulande üblich ist, in irgendeiner Weise bestraft oder gedemütigt, wenn sie eine Leistung nicht erbringen. Denn: Es gibt keine Leistung, die sie erbringen müssen. Sie selber sind die Leistung. Sie sind die Sammlung an Möglichkeiten und es liegt im ureigenen Interesse des Clans, diesen Möglichkeiten freien Lauf zu lassen, um zu erkunden, ja ich möchte sagen: fasziniert zu beobachten, welche Sammlung da angelegt wird und wie sich diese Sammlung auf den Clan auswirkt.

Der Vollständigkeit halber muss ich natürlich ergänzen, dass viele aus der Nienetwiler Kultur sesshaft werden mussten, weil die Repressalien für die fahrenden Völker zu gross geworden sind oder das Reisen unmöglich gemacht wurde. Viele dieser Sesshaften haben versucht – und tun dies immer noch –, die Ideen aus der Nienetwiler Kultur, insbesondere was die jungen Menschen und ihre Möglichkeiten zu sammeln angeht, in die «moderne» Gesellschaft einzubringen. So sind bereits einige Schulen gegründet worden, die diese Ideen aufgenommen haben. Wie sie sich entwickeln, muss sich allerdings noch zeigen.

Ihr habt vielleicht bemerkt, dass ich das Wort «Bildung» nie benutzt habe. Es ist ein schreckliches, ein grauenerregendes Wort, das nur dieser fürchterlichen westlichen Gesellschaft entkrochen sein kann. Das Wort sagt, dass wir einen jungen Menschen behandeln wie ein Bildhauer ein Stück Stein und den Menschen zu dem machen, wie wir ihn uns vorstellen. Es ist einfach widerlich! Und noch schlimmer scheint mir, dass es in der deutschen Sprache seit Kurzem Worte wie «Bildungsgesellschaft» oder «Bildungswesen» gibt. Ich kann mir dieses «Bildungswesen» lebhaft vorstellen, diesen Kinder zerfleischenden Jabberwocky!

Werter Freund. Ich ende hier und hoffe, dass ich Ihnen mit meinen Ausführungen nicht nur die Zeit geraubt habe und sie Euch bei Euren Überlegungen weiterhelfen.

Mit den besten Empfehlungen auch an die Frau Gemahlin

Hochachtungsvoll

Aciel

Postscriptum: Seit meiner Rückkehr bin ich wieder in meinem Atelier in Paris. Falls Ihr mir wieder schreiben wollt, dann an die Adresse dort.

 


 

Zürich, Juni 1902

Verehrter Arbogast

Ich danke Ihnen herzlichst für Ihre Ausführungen über die Erziehung bei den Nienetwilern. Sie haben mir viele wertvolle Anregungen gegeben. Vor Kurzem hatte ich die ehrenvolle Gelegenheit, Ihre Ideen mit unserer Bekannten Frau Dr. Maria Montessori zu diskutieren. Die ehrenwerte Dame war entzückt über die Vorstellungen und Praktiken der Nienetwiler betreffend den Umgang mit jungen Menschen, da sie selber nur Ungutes in der heutigen Schule findet und sich Gedanken macht über die richtigen Formen der Erziehung. Ich finde, dass es interessante Anhaltspunkte für Hinweise auf das Weiterleben von Nienetwiler Gedankengut gibt, das ich Ihnen mit diesem Schreiben unverzüglich mitteilen möchte. Frau Dr. Montessori war von den Nienetwilern begeistert und meinte, ihre Arbeit mit Menschen, die als behindert betrachtet wurden, und mit Kindern klar zeigt, dass die traditionelle Erziehung in den Schulen, die sich dem Eintrichtern von vermeintlichem Wissen in die Köpfen der Kinder widmet, in keinerlei Art und Weise der Natur des Menschen und vor allem der Natur des Kindes entspricht. Es gehe, ihrer Meinung nach – und dies hat sie bei den Nienetwilern gelobt – darum, das Potenzial des Kindes mittels der richtigen pädagogischen Massnahmen zur Erfüllung zu bringen. Es sei eine Verfehlung der Gesellschaft, so mit Kindern umzugehen, dass die Kinder abgerichtet werden, bloss Konformisten zu werden und alle Kreativität zu vernachlässigen. Sie meinte, es sei nicht an der Gesellschaft, den Menschen zu sagen, wie sie sein sollten, sondern die Menschen müssten sagen, was für eine Gesellschaft sie wollen. Ich war von diesem Gespräch zutiefst beeindruckt und dachte – auch Frau Dr. Montessori gegenüber –, dass

das Gedankengut und die Praktiken der Nienetwiler einen wichtigen Beitrag zur Verbesserung der heutigen Schulen leisten können. Ich bin überzeugt, lieber Kollege, dass Sie ebenfalls die Bedeutung von Nienetwil in dieser Hinsicht zu schätzen wissen.

Nun habe ich, nach diesem aufregenden Gespräch, lange darüber nachgedacht, was die Nienetwiler wohl heute tun würden, wenn sie Schulen einrichten müssten. Natürlich würden sie sich höchstwahrscheinlich und aus Prinzip weigern, Schulen einzurichten, denn nach ihrer Auffassung, wenn ich Sie, lieber Freund, richtig verstehe, ist für die Nienetwiler das Leben die beste Schule und junge Menschen in Schulzimmern einzusperren kommt eher einem Gefängnis als einer Bildungsinstitution gleich. Die «pädagogischen» Absichten der kriminellen Bestrafung sind ja bekannt. Dies führt zur Frage: Wie könnte die Schule so eingerichtet werden, dass sie wie das Leben ist und nicht wie ein Gefängnis?

Sie schreiben in Ihrem Brief, dass für die Nienetwiler vor allem drei Dinge bei der Erziehung wichtig waren.

  1. Entscheidend war, dass die jungen Menschen das tun durften, was sie wollten und mit wem sie wollten, also musste man sie fragen, was sie lernen wollten und wie sie dies lernen wollten.
  2. Das «Wissen», das durch die Erziehung «vermittelt» werden sollte, wurde als kwasi, d. h. «erkunden, herausfinden, erforschen und erfühlen» bezeichnet.
  3. Im Wort kwasi gibt es keinen Hinweis auf das, was wir moderne Menschen «Leistung» nennen bzw. das Ermessen von Wissen oder Fähigkeiten mittels irgendwelcher Massstäbe. Da es um das Kind ging und nicht um die Erwartungen der Gesellschaft, waren Prüfungen aller Art den Nienetwilern fremd.

Wenn ich richtig verstehe, müssen wir also Erziehung als eine Tätigkeit des Lernenden und nicht der Lehrenden verstehen, eine Tätigkeit, die unabhängig von jedwedem «Lernstoff» gelernt werden kann bzw. an die jungen Menschen «weitergegeben» wird.

Was eine solche Tätigkeit sein könnte und wie wir heute diese Tätigkeit bezeichnen könnten bzw. sollen, ist die Frage, die ich nun Ihnen, verehrter Kollege, stelle.

Gerne erwarte ich von Ihnen eine aufschlussreiche Antwort!

Ihr Nussquammer

 


 

Paris, 6. August 1902

Werter Nussquammer

Wie immer fällt es Ihnen leicht, aus meinen endlosen Ausführungen die Essenz herauszukitzeln.

In unserem Sinne ist das Lernen, bzw. Sammeln, keine Tätigkeit wie etwa das Bauen eines Tisches. Sitzt ein junger Mensch in einer Schreinerei, wird er schnell lernen, wo sich welche Werkzeuge befinden, denn er will ja gerne mitarbeiten und mit helfender Hand dies oder jenes an die Werkbank bringen oder gebrauchtes Werkzeug verräumen. Bald schon darf er hier etwas hobeln und da etwas sägen und er bekommt das Wissen, worauf er achten soll, mitgeteilt. Hobelt er gegen das Holz, wird er sehr schnell feststellen, dass das nicht gut geht. Er kann nun fragen, woran es liegt, oder er kann selber ausprobieren. Beides ist gleich gut, denn es ist eine Frage des Charakters, nicht eines Intellekts, den es zu bewerten gilt. Mit der Zeit lernt der Mensch immer mehr Fertigkeiten, teilt sich Wissen mit anderen, fragt, wo er wissen will, und gibt weiter, wo er gefragt wird.

Der Moment, in dem man damit anfängt, ist jener, in dem die kognitiven Fähigkeiten es erlauben, und es hört dort auf, wo diese wegen Alter, Krankheit oder Tod wegfallen.

 

Euren Schluss, dass Erziehung eine Tätigkeit des Lernenden und nicht des Lehrenden sei, muss ich allerdings korrigieren. Es gibt keine Erziehung bei uns, denn wir ziehen niemanden irgendwohin. Wir kennen nur das Lernen/Sammeln an und für sich, und es ist auch keine Tätigkeit eines Einzelnen, sondern des Kollektivs.

Wie ich aus Eurem Brief verstanden habe, sucht Ihr nach einer Lösung, unser Wissen (das wir übrigens mit Hunderten, ja Tausenden Stämmen auf der Welt teilen) für die jungen Menschen hier in den Städten nutzbar zu machen.

Ehrlich gesagt denke ich, dass Ihr die Quadratur des Kreises sucht. Denn die Stadt an und für sich ist eine Entwicklung des Marktes, und das im wortwörtlichen Sinne. Nehmen wir den Markt von Marseille. Dort war einst nur ein Hafen, an dem von Griechen Ware umgesetzt wurde. Später wurde von den Römern ein Markt eingerichtet und Strassen wurden gebaut, um diese Waren umzusetzen und ins Landesinnere zu bringen. Allein der Wunsch, dies zu tun, führte zu einem Wachstum. Es wurden Schreiner und Schmiede und Netzflicker gebraucht. Die mussten wohnen, also wurden Zimmerleute und Maurer gebraucht, die wiederum selber wohnen mussten. Es brauchte Kleidung für diese Leute und so weiter und so fort. Wachstum. Wachstum ist die Entscheidung, die die Menschheit eines Tages vor Tausenden Jahren getroffen hat. Und Wachstum ist genau das, was wir verweigerten.

Wenn Ihr Wachstum habt, habt Ihr Sachzwänge. Ihr braucht Maurer, also müsst Ihr welche heranzüchten. Wie Gemüse zieht Ihr sie heran und lehrt sie das Wichtigste, was sie für das Handwerk brauchen. Das Individuum ist nur innerhalb der Zwänge, die der Markt vorgibt, frei.

Und schon werden die Ersten wieder ausgesondert. Tausende Arbeiterinnen und Arbeiter, die in den Fischfabriken oder Werften Marseilles arbeiteten, wurden entlassen, um den grossen neuen Maschinen Platz zu machen, die es jetzt gibt.

Vor einigen Jahren habe ich in der Schweiz Webereien besucht. Nicht die kleinen Werkstätten mit Webrahmen, sondern grosse Hallen mit riesigen Maschinen, die klopfend und stampfend die Arbeit Hunderter Arbeiter verrichten. Die Arbeiterinnen und Arbeiter, die früher dort webten, mussten sich eine andere Arbeit suchen. Viele sind nach Amerika, Brasilien und in andere Länder ausgewandert. Ich sah das Gleiche an anderen Orten und in anderen Fabriken.

Eines Nachts im Scheherazade begab es sich, dass eine gar kleine und feine und wirklich übermässig illustre Gesellschaft zufällig im «Blauen Salon» zusammenkam. Ein englischer Schriftsteller war dabei, ich glaube, er hiess Wells, ein spanischer Ingenieur und einige mehr (verzeiht, dass ich die Namen nicht mehr weiss, aber es war schon spät nachts und der Bordeaux war reichlich geflossen).

Wir plauderten erst ungezwungen über dieses und jenes, als ich irgendwann von meinen Beobachtungen in den Fabriken erzählte. Man erzählte mir dabei von Rechenmaschinen, die es nun offenbar gab, die selbstständig Rechenaufgaben ausführen konnten, und einer von ihnen, ich glaube der Spanier, behauptete gar, dass er dabei sei, eine Maschine zu bauen, die Schach spielen werde.

Mr. Wells überraschte uns alle mit der Aussage, dass er ganz sicher sei, dass die Entwicklung dieser Rechner bestimmt dahin führen würde, dass sie eines fernen Tages ebenso gut rechnen können würden wie wir, und mehr noch, dass sie aufgrund eines mechanischen Gedächtnisses imstande sein würden, zu denken. Dies zusammen mit den Maschinen, die ja heute schon gebaut würden, könne nur darauf hinauslaufen, dass es dereinst «mechanische Sklaven», wie er es nannte, geben würde, die die Arbeit für uns verrichten würden. Ich fragte ihn, was dann aus den Menschen werden würde und was die derweil zu tun hätten. «Wir werden uns alle den schönen Künsten zuwenden!», rief er aus und erntete schallendes Gelächter, denn solch ein Seemannsgarn hatte man hier schon lange nicht mehr gehört.

Wenn es denn so kommen würde, wie diese Leute erzählen, was geschieht dann mit den jungen Menschen in der Stadt? Vielleicht sitzt am Kundenschalter der Bank einmal eine Maschine? Vielleicht gibt es keine Kutscher mehr, weil wir auf Maschinen reiten? Was, wenn Maschinen Stühle und Tische, Hosen und Hemden billiger erschaffen als wir Menschen? Was will man dann mit den jungen Menschen machen? Ich muss es nicht weiter ausführen, ich nehme an, auch Ihr habt «Das Kapital» gelesen, sei es auch nur, um ein Gefühl des Schauerns zu erleben. Es erklärt die Prozesse besser, als ich es kann.

Also, was geschieht mit den Menschen, wenn wir sie nicht mehr brauchen?

Ich weiss es nicht, werter Kollege, ich weiss es nicht. Ich kann nur Fragen stellen. Oder fabulieren.

Wollen wir zusammen den Weg eines Kindes aus unserem Stamme skizzieren, das hier in Paris lebt? Nehmen wir an, sein Name ist Eric. Sagen wir, er wächst draussen am Stadtrand in den Handwerkerquartieren auf. Sein Vater ist Kesselflicker, seine Mutter arbeitet als Putzfrau im «Le Bon Marché». Bis er sechs Jahre alt ist, verbringt Eric die meiste Zeit mit anderen Kindern zusammen bei seiner Grossmutter und deren Schwestern, die, wie seine Eltern, am Stadtrand in den neu entstandenen Arbeitervierteln lebte. Sein Leben ist vorherbestimmt. Er muss die Schule besuchen und abends hilft er, Uniformknöpfe zu polieren. Als er stärker wird, muss er nach der Schule seinem Vater helfen. Mit elf Jahren ist er fertig mit der Schule und arbeitet bei seinem Vater als Kesselflicker. Dieser stirbt schon bald darauf, vielleicht am Kupferoxyd, vielleicht von den Schwefeldämpfen, vielleicht an Mangelernährung. Er erfährt es nie. Er ist es nun, der für die Familie sorgen muss, und übernimmt seines Vaters Arbeit. Er heiratet, hat Kinder und stirbt eines Tages. Das ist das Leben von Eric. Die Schule, die er besuchte, lehrte in Französisch, Rechnen und Geschichte. Genug, um die Arbeit seines Vaters übernehmen zu können. Zu wenig, um irgendetwas anderes machen zu können. Er wurde erzogen, um ein wertvolles Mitglied nicht der Gesellschaft, sondern des Marktes zu werden.

Und jetzt erzähle ich dir von Finja. Sie stammte aus einem Skandaj-Clan unten in Aurillac. Ihr Vater hatte eine Französin geheiratet, die aus einem alten sesshaften Clan stammte. Da deren Vater eine Tischlerei in Paris besass, zog er ebenfalls nach Paris, um dort in der Werkstatt seines Schwiegervaters im 11. Arrondissement zu arbeiten. Dorado, so hiess dieser, war über die Hilfe ausgesprochen froh, denn Manitas, so heisst Finjas Vater, war ein sehr guter Tischler. Finja sass bereits als kleines Mädchen in der Werkstatt und schaute den beiden bei der Arbeit zu. Sie lernte schnell und bald schon holte sie ein Werkzeug aus der Schublade, noch bevor einer der beiden danach gefragt hatte. Sie war vier oder fünf Jahre alt, da gaben sie ihr kleine Aufgaben. «Zähl von diesen Schrauben zwanzig ab und dann noch acht von den Messingwinkeln.» So lernte sie zählen. Bald auch lesen und, da sie fanden, dass sie sehr gewitzt war, nahmen sie sie zu Chaim Barot mit. Das war ein sehr bekannter Vergolder und Rahmenschnitzer. Er war ein bärtiger kleiner Mann mit Zwickelbrille und einem verschmitzten Lächeln. Er liebte Kinder und behandelte sie nicht wie dumme kleine Geschöpfe, sondern wie kleine Erwachsene. Finja liebte ihn vom ersten Augenblick an und bat ihren Vater, bei Chaim einige Zeit lernen zu dürfen. Und so geschah es. Drei Jahre blieb sie bei ihm und lernte alles, was es über das Vergolden und das Schnitzen zu lernen gab. Danach, sie war vierzehn, dachte sie sich, dass es doch sicher klug wäre, zu schauen, ob es an anderen Orten anderes zu lernen gäbe, was sie interessierte. Und so nahm sie ihr Vater auf eine Reise nach der anderen mit. Bei Chaim hatte sie Jiddisch und Englisch gelernt. Beim Holzbildhauer Giannpaolo di Conti noch mehr über Holzverarbeitung, Kunst und zudem Italienisch. Bei Fritz Zellweger, einem Tischler aus Basel, der sich in Speyer niedergelassen hatte, lernte sie noch mehr dazu, vor allem über Verbindungstechniken und Intarsien, und natürlich Deutsch. Mit all diesem Fachwissen und den Sprachen ausgestattet kehrte sie 1899 nach Paris zurück. Vor einem Jahr zog sie nach Bologna, wo sie heiratete und nun, so viel ich hörte, ein Kind erwartet. Sie hat in ihrem Leben nie eine Schule besucht und empfängt dennoch monatlich Besucherinnen und Besucher aus der ganzen Welt, denn sie ist zu einer echten Koryphäe geworden und ihr Wissen ist in ganz Europa gefragt.

Das also ist unsere Auffassung von Lernen und Erwachsenwerden.

 

Zu Eurer Frage, wie also diese unsere Auffassung in die moderne Zeit übernommen werden könnte, meine ich, dass Schulen, wenn überhaupt, spezifisches Fachwissen weitergeben sollten, das nicht, oder nur sehr schwer, bei Einzelpersonen gelernt werden kann. Physik vielleicht oder Chemie. Solches eben. Doch sollten dort alle Zugang haben, nicht nur, wie es heute der Fall ist, die Kinder der «Elite». Zudem sollte überlegt werden, wie wir die Gesellschaft so von den Zwängen des Marktes befreien, dass Menschen nicht mehr nur dafür «herangezüchtet» werden müssen. Es gilt Strategien zu entwickeln, die uns von dem unsinnigen Weg des Wachstums wegbringen. Oh, was für ein utopischer Gedanke!

Sollten die Visionen der Zukunft von diesen Leuten wie oben beschrieben zutreffen und eines Tages tatsächlich kaum noch Arbeit für Menschen da sein, oder vielmehr der Markt nicht mehr ihrer bedürfen, so scheint es mir angebracht, das ganze System Schule bereits jetzt dahingehend zu überdenken.

Was im Übrigen den Begriff angeht, nach dem Ihr fragtet, und welcher Euer Wort «Bildung» ersetzen könnte, so kann ich nur auf das Alaju-Wort «tobe» verweisen. Es setzt sich aus den beiden Alaju-Wörtern «toho», also etwa <Chaos, etwas, das im Fluss ist und noch nicht seine Form angenommen hat>, und «be», also <Möglichkeiten>, zusammen. Es bedeutet, in einem Fluss der Möglichkeiten zu sein oder die Möglichkeiten im Chaos zu finden.

Nun hoffe ich, Eure Fragen in etwa beantwortet und Euch mit meinen langen Ausführungen nicht gelangweilt zu haben.

Hochachtungvoll

Arbogast


 

Zürich, 4. Oktober 1902

Verehrter Arbogast

Ihr langes Schreiben vom 6. August hat mich erst in den letzten Tagen erreicht, da ich unterwegs war und wenig Gelegenheit hatte, meine Post einzusehen. Entschuldigen Sie bitte, dass Sie auf eine Antwort warten mussten.

Sie beschreiben auf eindrucksvolle Art und Weise den Lebenslauf von zwei verschiedenen jungen Menschen. Diese Geschichten finde ich interessant und aufschlussreich, da sie illustrieren, wie verschieden und gleichsam wie von «Natur» aus Menschen lernen. Sie lernen, indem sie etwas tun, das heisst indem sie Probleme des Lebens lösen. Unsere heutigen Schulen, da würden mir Sie sicher beipflichten, tun fast genau das Gegenteil. Die jungen Menschen müssen lernen, indem sie nichts tun, wenigstens nichts Wirkliches. Was sie lernen, ist «nur für die Schule» und hat praktisch nichts mit dem Leben zu tun. Dies hat Frau Dr. Montessori mir in unserem Gespräch klargemacht – eine Tatsache, die sie sehr bedauerte und sie dazu veranlasst hat, ihre eigenen Schulen zu begründen. Sie teilte auch Ihre Meinung, dass die Gesellschaft, worauf die jungen Menschen angeblich durch Erziehung «vorbereitet» werden sollten, von ihnen verlangt, dass sie blosse Arbeitskräfte sind, was so viel bedeutet, dass Menschen wie Maschinen wo immer und wie immer eingesetzt werden können, wie dies die industrielle Produktion, Sie reden ja vom «Markt», verlangt. Ich glaube, dieser Herr Wells, den Sie erwähnen, hatte Recht, wenn er meinte, dass die Maschinen am Ende alles übernehmen werden, denn was die Erziehung heutzutage tut, ist nichts anderes als der abwegige Versuch, Menschen in Maschinen zu verwandeln. Hier hatte Karl Marx Recht: Arbeit bedeutet, sich von sich selbst, von der wahren Natur des Menschen, zu entfernen.

Was die Schule angeht, bin ich mehr denn je überzeugt, dass die Zeit gekommen ist, nicht nur die Erziehung, wie dies heutzutage überall und erzwungenermassen institutionalisiert ist, sondern die ganze Gesellschaftsordnung, die – wie Sie vortrefflich sagen – ein Markt ist und nicht ein Lebensraum, grundsätzlich geändert werden müssen. Man spürt überall, wie die alten Institutionen eher den Fortschritt hindern als fördern und wie ein neues Denken kommen muss, wenn wir die Ungerechtigkeiten dieser Welt berechtigen werden sollen. ((verstehe ich nicht)) Aus diesem Grund bin ich überzeugt, dass unsere gemeinsame Forschung über Nienetwil von Bedeutung sein kann, denn die Nienetwiler haben über die Zeiten hinweg eine Lebensweise erhalten, die als Leuchtturm die Menschen von heute in letzter Minute davor warnen könnte, einen katastrophalen Schiffbruch der Zivilisation zu erleiden. Die Zeichen der Zeit stehen nicht gut, mein lieber Freund, aber es gibt Hoffnung!

Für Ihre höchst interessanten Ausführungen über das Nienetwiler Wort «tobe» bin ich Ihnen sehr dankbar, denn sie haben mir in meinen Gedanken weitergeholfen, das zu formulieren, was mir bis anhin nicht klar wurde, so viel ich auch versuchen mag, die Ideen, die mir im Kopf herumtanzen, zur Sprache zu bringen. Sie schreiben, die Nienetwiler haben das, was wir «Erziehung» nennen, ausdrücklich nicht als eine Absicht zu unterrichten zwecks Zertifizierung für irgendwelche Arbeiten, die sie später in der Gesellschaft ausführen werden müssen, sondern als einen bestimmten Umgang mit Möglichkeiten, die zwar offen sind, aber, sozusagen, auf eine «Form» bzw. eine Verwirklichung «warten». Es geht, wenn ich die Nienetwiler richtig verstehe, um die Art und Weise, wie eine Sammlung zustande kommt, oder anders formuliert, wie Sie ja selber schreiben, um «die Möglichkeiten im Chaos zu finden». Also es wird kein Stoff gelehrt und gelernt, es werden keine Prüfungen abgenommen, sondern es wird ein bestimmter Umgang mit Problemen, mit Gelegenheiten, mit dem, was in einer besonderen Situation «möglich» ist, den jungen Menschen weitergegeben. Dies ist der Sinn und Zweck von Bildung! Die Nienetwiler würden wohl sagen, es wird gelernt, wie man «sammelt». Denn was immer in eine Sammlung kommen mag oder darin eine Rolle spielen mag, kann ja sehr komplex und weitreichend sein, denn es kommt ja darauf an, wie die Sammlung zustande kommt. Dies kann man gut oder schlecht machen, richtig oder falsch, und demnach muss die richtige Art und Weise zu sammeln gelehrt und gelernt werden. Alles andere ist zweitrangig und kann nur von der wirklichen Aufgabe des Lebens ablenken.

Was ist dann die richtige Art und Weise zu sammeln? Von allem, was ich bis heute über die Nienetwiler herausgefunden habe und mit Ihrer sehr hilfreichen Unterstützung, wenn es um das Verständnis der Nienetwiler Kultur und Lebensweise geht, wage ich die Vermutung, dass das Sammeln sich so vollzogen hat, dass zuerst eine Art Offenheit für Probleme für das, was möglich oder sogar nötig ist, kultiviert werden müsste. Dinge kommen nicht alleine oder bloss von sich aus zusammen, um eine Sammlung zu bilden. Sie müssen zuerst als «gaben» erscheinen können, die ja, wie Kollege Mauss behauptet, immer in irgendeiner Art und Weise «verpflichtend» sind. Kurz: Um ein Problem zu lösen, muss man wissen, was das Problem ist, und dieses Wissen kann nicht auf die Dinge bloss aufgepfropft werden, sondern muss von ihnen kommen, in ihnen schlummern, als ihre Möglichkeiten sich auf irgendeine Art und Weise kundtun.

Wenn das Sammeln mit einer Wahrnehmung und einem Verständnis für ein Problem beginnt, dann muss zweitens eine Vision, wie vage oder unbestimmt diese auch immer sein mag – der Sammlung vorhanden sein, die daraus entstehen sollte. Es kann nicht alles, was möglich ist, realisiert werden. Entscheidungen müssen fallen. Dies richtig zu tun, muss gelernt werden. Denn es handelt sich mehr um eine Kunst als eine gedanken- und gefühllose Methode, die überall auf die gleiche Art und Weise angewendet werden könnte. Drittens muss man die Vision durch vielfaches Ausprobieren von Kombinationen und Verbindungen testen. Lernen ist immer Versuch und Irrtum, ein Ausprobieren und Erfahrungenmachen. Ganz im Gegensatz zur heutigen Schule ist lernen Tun, Handeln oder das, was Marx «Praxis» nennen würde. Viertens müsste versucht werden, aus den Erfahrungen mit verschiedenen Kombinationen und Verbindungen eine Sammlung herzustellen. Dies ist ausdrücklich «provisorisch», denn die Sammlung muss standhalten und ihren Weg in die Kollektive finden. Die so entstandene Sammlung, sei es ein Möbelstück – etwa ein Tisch – muss vielfachen Herausforderungen standhalten und zeigen, dass es zusammenhält oder in bestimmten Hinsichten geändert werden muss. Aus diesen verschiedenen konkreten Versuchen wird dann endlich eine Variante ausgewählt und im Kollektiv akzeptiert. Dies bedeutet aber nicht – wie bei allen Sammlungen der Nienetwiler –, dass die Sammlung nicht mehr geändert, verbessert, erweitert etc. werden kann. Ganz im Gegenteil: Das Nienetwiler Prinzip der «Vermehrung» deutet darauf hin, dass jede Sammlung «provisorisch» ist und offen für Veränderungen.

Was ich versucht habe zu beschreiben in diesen kurzen Bemerkungen, wäre m.E. das, was in den Schulen gelehrt werden sollte. Es kommt also nicht auf den Stoff oder irgendwelches Wissen an, das an Prüfungen wiedergegeben werden kann, sondern auf eine bestimmte Verhaltensweise, eine Praxis, auf die Fähigkeit, richtig zu sammeln. Da wir heute dieses Verhalten bei denjenigen Menschen finden, die bewusst eine eher kreative Arbeit ausführen, also diejenigen, die in allen Branchen, ob Mode, Architektur, Industrie oder was immer, sich «Designer» nennen, könnte man das Weiterleben des Nienetwiler Gedankenguts in diesen Formen der Arbeit vermuten. Dass ein so wichtiges Kulturgut einfach verloren geht und nicht in vielfachen Existenzformen der modernen Menschen unbekannt und unbenannt weiterlebt, ist kaum zu glauben. So auf jeden Fall ist meine Hoffnung!

Ich hoffe auch, lieber Freund, dass dieses Schreiben, obwohl verspätet, Sie in bester Verfassung erreicht.

In Hochachtung

Ihr Nussquammer

 


  1. Inhaltsverzeichnis CRN 2-2021-1
  2. Editorial
  3. Einleitung der Herausgeber – Utopie als Gesellschaftsdesign
  4. Peter Friedrich Stephan über Design
  5. Das Ende von Arbeit und der Anfang von Design
  6. Biografie Amot Nussquammer jun
  7. Briefwechsel Nussquammer – Arbogast
  8. Alaju: Die Wörter «be», «gabe», «tobe»
  9. Grabungsbericht und Fundinterpretation N1/1 «Skandi-Stein»
  10. Biografie Patrizia Am Rhyn
  11. The Alaju Settlement - Teil 2
  12. Ausblick CRN N° 3-2021/2
  13. Impressum / Autorin und Autoren CRN 2