Über die Natur der Macht

Eine informelle Präsentation von Amot Nussquammer jun. mit Protokoll der anschliessenden Diskussion

Von David J. Krieger

Der hier wiedergegebene Text stammt aus dem Nachlass von Amot Nussquammer jun. Den Inhalt kannte ich bereits, er war mir aber als Schriftstück verloren gegangen. Ob Zufall oder Schicksal – eines Tages fiel mir aus vielen sorglos zusammengeworfenen Schriften und anderen Papieren ausgerechnet dieser Text in die Hände. Nicht nur war der von Nussquammer selbst in englischer Sprache geschriebene Vortrag dabei, sondern – und dies ist der Grund der besonderen Bedeutung des Texts für mich – auch ein von mir verfasstes Protokoll des anschliessenden Gesprächs. Warum gerade dieser Text und das Protokoll für mich so bedeutend sind, liegt nicht nur an meinem persönlichen Beitrag, sondern vor allem an den Umständen der Präsentation und den renommierten Persönlichkeiten, die am Gespräch teilgenommen hatten. Das Gespräch fand im «Salon» von Amots Mutter Miribal Ciséan statt.

Miribal pflegte seit Jahren eine Art Salon für informelle Gespräche unter Persönlichkeiten aus ihrem Bekanntenkreis zu führen. Nach dem Umzug der Familie Nussquammer in die USA liess sie sich in Chicago, Illinois, in der Nähe der dort ansässigen Universität nieder. Dank ihrer besonderen Begabung für Sprachen fand Miribal an der Universität eine Stelle als Übersetzerin. Als der gebürtige Wiener Heinz von Foerster in den späten 1950er-Jahren das Biological Computer Laboratory (BCL) an der Universität von Illinois gründete, lernten sich die beiden Exileuropäer bei einem Konzert an der Chicagoer Philharmonie kennen und Miribal begann als Dolmetscherin für das BCL zu arbeiten.

Es war Heinz von Foerster, der Miribal zu den berühmten Macy-Konferenzen über Kybernetik mitnahm, wo sie viele Begründer der Kybernetik und der späteren Computer Sciences persönlich kennenlernte. Bald erkannte Heinz von Foerster, dass Miribal die Gabe hatte, nicht nur Sprachen zu übersetzen, sondern Menschen aus den verschiedensten Disziplinen und Interessengruppen miteinander ins Gespräch zu bringen. Da Heinz von Foerster sich bemühte, das BCL als interdisziplinäre Forschungsstätte über alle Fragen der neuen Wissenschaften zu etablieren, lud er regelmässig nicht nur Kybernetiker, sondern auch Forschende aus anderen Disziplinen und sogar Kunstschaffende und Musiker und Musikerinnen ein, am BCL Zeit zu verbringen und mitei-nander zusammenzuarbeiten. Hier war Miribals Talent als Unterhalterin und Gesprächsleiterin von grosser Bedeutung. Miribal selbst hat mir einmal gesagt, dass dies auf ihre jahrelange Tätigkeit in einem bestimmten Pariser Etablissement zurückzuführen sei. Dort haben sich, wie wir heute aus ihrer Autobiografie wissen, Künstler, Wissenschaftlerinnen, Politiker und Persönlichkeiten aus allen Lebensbereichen regelmässig getroffen, um die neuen Erkenntnisse der Wissenschaft und der Weltpolitik zu diskutieren. Miribal spielte dabei eine wesentliche Rolle als Stellvertreterin der Inhaberin des Scheherazade, jenem klassischen Pariser Salon. Ob von Foerster, dessen Wurzeln nach Wien zurückreichen, davon wusste oder vielleicht sogar schon in Paris geweilt hatte, ist nicht bekannt.

Wie immer stellte sich rasch heraus, dass Miribal in dieser Hinsicht begabt war, was von Foerster bei seinen Bemühungen, eine internationale und interdisziplinäre Gruppe in seinem BCL zusammenzubringen, sehr zugute kam. Auch Jahre später noch, nachdem Amot jun. sein Studium an der Universität von Chicago aufgenommen hatte, pflegte sie ihre Salongespräche weiter. Sie konnte dabei auf die Teilnahme vieler Persönlichkeiten, die sie sowohl während ihrer Arbeit am BCL als auch an den Macy-Konferenzen kennengelernt hatte, zählen. Es war bei einem solchen Salongespräch, das 1977 in ihrem Haus in Chicago stattfand, dass Amot den hier in deutscher Sprache wiedergegebenen Vortrag hielt. Da ich ihn von der Universität her gut kannte, lud er mich ein, am Gespräch teilzunehmen. Schon als ich ankam, merkte ich, in welch auserlesenen Gesellschaft ich mich befand. Da war nicht nur Heinz von Foerster selbst, sondern auch der chilenische Biologe Humberto Maturana und der Psychologe Ernst von Glasersfeld zugegen. Ebenfalls anwesend waren persönliche Freunde Miribals, die wahrscheinlich etwas Besonderes mit Nienetwil zu tun hatten.

Als ich eintraf, waren fast alle Gäste bereits da und Miribal bat mich, als «neutraler» Neuankömmling das Protokoll zu führen. Ich konnte nur akzeptieren, was dazu führte, dass ich damals die Fragen und Antworten und die rege Diskussion, welche die immer provozierenden Ideen, die Amot präsentierte, auslösten, niederschrieb. Das Protokoll gab ich anschliessend Miribal, die offensichtlich alle Papiere an Amot weitergab. Sowohl der Vortrag wie auch das Protokoll landeten schliesslich in den Nachlasspapieren von Amot, die nach vielen widrigen Umständen und Verzögerungen aus Südamerika zu mir kamen. Ich freue mich ausserordentlich, in der vorliegenden Ausgabe der CRN diese Texte präsentieren zu dürfen – nicht nur, weil sie einen Einblick in das Schaffen von Amot Nussquammer jun. erlauben, sondern auch in die aufregende intellektuelle Kultur, zu welcher die Nussquammers in den USA beigetragen haben. Nicht zuletzt soll diese Veröffentlichung das Weiterleben und den Einfluss von Nienetwiler Gedankengut bezeugen und fördern.


Über die Natur der Macht
Von Amot Nussquammer jun. (aus dem Englischen übersetzt von David J. Krieger)

Meine Damen und Herren, verehrte Gäste

Wenn es um Ordnung im Gegensatz zu Chaos geht, also darum, Dinge zusammenzuhalten, sprechen Physiker von vier fundamentalen Kräften des Universums: Es gibt die Schwerkraft, die elektromagnetische Kraft und die sogenannten «starken» und «schwachen» Kräfte, die die Teilchen zusammenhalten und ihre Beziehungen regeln. Diese vier Kräfte sollen alles erklären. Aber was ist mit dem Leben? Und was ist mit dem Sinn? Haben lebende Organismen nicht ihre eigene «Lebens»-Kraft, die die Zellen und Teile von Zellen zusammenhält und ihre Interaktionen regelt? Und was Sinn angeht: Was hält die Wörter einer Sprache zusammen, sodass sie Sätze ergeben? Warum kann nicht irgendein Wort mit irgendeinem anderen kombiniert werden?
Es muss etwas geben, das Sinn, Kultur, Technologie und Gesellschaft entstehen lässt. Können diese Kräfte nicht auch als «fundamentale» Kräfte des Universums betrachtet werden? Diese Frage ist wichtig, zumindest wenn wir den «Physikalismus» vermeiden wollen, also die Reduktion von allem auf Materie.
Nennen wir die Kraft, die unbelebte Materie in lebende Organismen verwandelt, «Negentropie» und nennen wir die Kraft, die Worte in sinnvollen Sätzen und Gedanken zusammenhält, «Macht». Im Jahr 1944 veröffentlichte der Physiker und Nobelpreisträger Erwin Schrödinger ein Buch mit dem Titel «Was ist Leben?». Die Frage stellt sich, weil lebende Systeme nicht dem Zweiten Hauptsatz der Thermodynamik, also dem Gesetz der Entropie, folgen. In lebenden Systemen nimmt die Ordnung zu, anstatt abzunehmen, und dies widerspricht dem Gesetz der Entropie.
Leben ist also eine grundlegend andere Form der Ordnung als Materie – Leben ist ein sogenanntes «emergentes» Phänomen. Dies bedeutet, dass wir nicht wissen, woher es kommt oder wie es entstanden ist. Wir wissen aber, dass es entstanden ist und dass es sich von der rein physikalischen Organisation der Materie, die das Gesetz der Entropie regelt, stark unterscheidet. Im Unterschied zur rein physikalischen Organisation, die die Entropie nicht negiert, scheint das Leben gerade dies zu tun. Negentropie bedeutet die Negation der Entropie, während Entropie die Tendenz der Energie ist, sich in ein Gleichgewicht zu zerstreuen – das heisst die gleiche Wahrscheinlichkeit aller Zustände. Für Schrödinger war dies ein Paradoxon: Wie kann die Entropie negiert werden und wie können sich Systeme von weniger organisiert zu mehr organisiert entwickeln? Ein anderer Ihnen allen bekannter Wissenschaftler, Ilya Prigogine, spricht von «dissipativen Systemen», die Energie aus der Umwelt aufnehmen und sie benutzen, um eigene Strukturen aufzubauen und am Laufen zu halten – ähnlich wie Wasser durch eine Mühle läuft oder Nahrung durch den Stoffwechsel von Organismen. Solche Systeme nutzen Entropie, um Entropie zu negieren.

Was bedeutet es, zu sagen, dass ein System Entropie – also die Dissipation von Energie – «nutzt», um sich selbst zu erhalten und sogar seine Umgebung zu verändern? Kurz gesagt, es bedeutet, dass das System «lebt». Ein lebendes System operiert, um sich selbst zu erhalten. Dies setzt voraus, dass das lebende System sich von seiner Umwelt trennt und die eigenen Operationen auf sich selbst bezieht. Lebende Systeme sind also geschlossene Systeme. Sie trennen sich von ihrer Umwelt, um ihre Operationen auf sich selbst beziehen zu können. Um zu verstehen, wie dies geschieht, ist der Informationsbegriff von grosser Bedeutung. Die Theorie der Information lehrt, dass weil Negentropie unwahrscheinlich ist und unwahrscheinliche Zustände «Information» enthalten, die Negentropie darauf hinausläuft, Information zu konstruieren. Dieser mathematische und physikalische Informationsbegriff wurde auf alle Systeme überhaupt übertragen. Man spricht heute überall dort, wo Negentropie wirkt, von Information.
Dabei wurde diese mathematische und physikalische Idee von Information nicht nur auf lebende Systeme angewendet, sondern auch auf die menschliche Psyche, auf das Hirn und sogar auf die Gesellschaft. Das Unwahrscheinliche bezeichnet dabei auch semantische Information oder das, was wir Sinn nennen. Man spricht heute von der «Konstruktion» von Information aus sensorischen Daten, welche die Operationen eines Organismus in seiner Umwelt steuert. Lebende Systeme sind selbststeuernde Systeme – also kybernetische Systeme –, weil sie ihre Operationen aufgrund von Information steuern, die sie selbst konstruiert haben. Sieht man einen Wolf, konstruiert man demzufolge Informationen, die einem sagen, dass man weglaufen soll. Sieht man einen Apfel, so wird eine Information kon-struiert, die einen anleitet, ihn zu essen. Information ist also eine interne Konstruktion des lebenden Systems. Aber sie ist nicht bloss etwas Mentales – sie ist eine Kraft, die Handlungen in der Welt anregt und steuert und Organismen dadurch zu bestimmten Zielen führt.
Zu sagen, dass Information eine Kon-struktion des lebenden Systems ist, bedeutet aber nicht automatisch und ohne Weiteres, dass alle Informationen, auch semantische Informationen, die das menschliche Denken und die Schöpfungen der Kultur auszeichnen, das Gleiche sind und aus den gleichen Kräften und Prinzipien entstehen. Ich möchte behaupten, dass so, wie das Leben als ein emergentes Phänomen gedacht werden muss, auch Sinn, Denken, Kunst und Kultur gedacht werden müssen.

Es steht ausser Zweifel, dass Sinn wenigstens aufgrund der Beteiligung von Operationen eines zentralen Nervensystems, das bei bestimmten Organismen besonders komplex ist, entsteht. Aber wir wissen nicht, wie oder warum. Für einen Organismus ist es genug, wenn Information dazu führt, dass der Organismus am Leben bleiben kann. Gut essen und gut denken sind aber sehr verschiedene Dinge. Denn die Geschichte lehrt, dass Menschen überall und zu allen Zeiten bereit waren, ihr Leben für das, was sie glaubten, zu opfern. Sinn, so scheint es mir, ist eine andere oder eine «höhere» Ebene der emergenten Ordnung jenseits von Materie und Leben. Wenn dies so ist, können wir annehmen, dass es eine fundamentale Kraft gibt, die Sinn erschafft und die Welt, die wir Menschen als eine sinnvolle Welt kennen, zugrunde liegt. Ich schlage vor, diese semantische oder sprachliche Kraft nicht wie üblich seit den alten Griechen «Vernunft» zu nennen, sondern viel eher als «Macht» zu bezeichnen. Vernunft, wie schon Aristoteles sagte, dient keinem Selbstzweck, sondern der Mensch ist das Tier, das die Sprache oder die Vernunft hat für den Zweck des Lebens in der politischen Gemeinschaft, das heisst in der Polis, in der Gesellschaft. Vernunft ist erst dann eine Kraft für sich, wenn sie die einzigartige Lebensweise des Menschen ermöglicht, die wir Kultur oder Gesellschaft nennen. Und wie die politische Philosophie seit Platon behauptet, verdankt die Gesellschaft ihre Existenz und ihren Bestand der Macht. Ohne Polis, das Politische, gibt es kein menschliches Leben. Das Zusammenleben der Menschen als Menschen und nicht als seltsame zweibeinige Tiere hängt von einer besonderen Kraft ab, welche die politische Philosophie Macht nennt.

Meine Damen und Herren, verehrte Gäste, es ist kein Geheimnis, dass Macht ein Geheimnis ist. Es gibt viele Theorien der Macht, die zu erklären versuchen, warum oder wie bestimmte Formen der sozialen Ordnung, bestimmte soziale Praktiken und Institutionen oder bestimmte exemplarische Personen Macht erlangen und ausüben. Macht kommt von Gott, von der Natur, von den besonderen Eigenschaften exemplarischer Personen oder von der Einwilligung der Bürgerinnen und Bürger. Was immer Macht ist und woher immer Macht kommt: Alle sind sich einig, dass Macht nicht als reine Gewalt zu verstehen ist. Ganz im Gegenteil, es gibt symbolische Macht, die sich in der Androhung von Gewalt äussert, aber Macht befindet sich auch in den Zeichen und Symbolen von sozialem Status, Reichtum, Einfluss usw. Macht befindet sich auch in den Visionen der Propheten oder den Mythen und Religionen der Völker. Ideen haben Macht. Von Macht zu sprechen, setzt uns nicht nur auf das Terrain der Politik, sondern auch auf das Terrain der Philosophie, der Soziologie und der Politikwissenschaft. Darüber hinaus bringt uns dies auch in Kontakt mit Disziplinen wie Psychologie, Ökonomie und sogar Kunst. Obwohl Macht üblicherweise ein Thema der Politik ist, ist Macht nicht nur politischer Natur, sondern überall dort, wo Sinn die Welt erschliesst. Politik mag wichtig sein, aber sie ist nur ein Teil der Welt von Sinn. In der Welt von Sinn ist Macht allgegenwärtig und aktiv in allen Formen sozialer und semantischer Ordnung. Macht ist nicht nur omnipräsent, sie ist auch etwas, das viel kritisiert wird, weil Macht, wie es scheint, unvermeidlich missbraucht wird. Niemand mag Macht, ausser denen, die sie haben, und denen, die sie suchen. Für diejenigen, die Macht haben, stellt sie eine Last dar, da immer die Frage bleibt, wie man sie erhalten kann. Und für diejenigen, die Macht nicht haben und demnach notwendigerweise nach Macht streben, ist – wie Machiavelli lehrt – jedes Mittel, das zum Ziel führt, recht. Dennoch hat Macht, wie schon Platon lehrte, zwei Seiten. Einerseits macht Macht Recht, aber anderseits ist nur legitime oder rechtmässige Macht akzeptabel.

Macht ist eine Kraft, die entweder gut oder böse sein kann. Deswegen müssen alle Theorien der Politik die Frage der Legitimation beantworten können. Ob es nun Gott oder die Natur oder das Volk ist, das die Arbeit der Legitimation übernimmt, spielt in der Menschheitsgeschichte keine grosse Rolle. Alle Möglichkeiten sind schon längst ausgeschöpft. Ob es sich um die Herrschaft des einen, der wenigen oder der vielen handelt: Eine Herrschaft kann sich ohne Legitimation nicht lange halten. Ob Macht in den Händen der Vertreter Gottes oder denen, die von Natur aus privilegiert sind, oder im Willen des Volkes liegt, sie muss legitim sein. Macht scheint nicht nur eine besondere Kraft für sich gegenüber den Gesetzen der Natur und des Lebens zu sein, sondern sie scheint die einzige fundamentale Kraft der Welt, die entweder gut oder böse sein kann. Denn die Gesetze der Natur sind weder gut noch böse, ebenso wenig die Kräfte, die das Leben bestimmen. Niemand kann sagen, ob Negentropie gut oder böse ist, und niemand muss es sagen können. Anders ist es bei der Macht. Könnte es sein, dass die Macht allein das Prinzip oder die Kraft ist, welche Ethik in die Ordnung des Universums bringt oder gar Ethik verlangt?

Wie immer das sein mag, und diese Frage möchte ich in diesem ehrwürdigen Kreis stellen: Was würde es bedeuten, wenn die Macht nicht ausschliesslich etwas Menschliches wäre? Was wäre, wenn Macht so etwas wie eine fundamentale Kraft des Universums wäre, ähnlich wie die Gravitation oder die Kraft des Lebens, Negentropie? Was wäre, wenn Macht die Kraft wäre, die die Dinge auf der Ebene von Sinn zusammenhält? Zugegeben, die Dinge mögen nicht immer in der besten Ordnung sein. Nichts sagt, dass Macht die beste aller möglichen Welten erschaffen muss, genauso wenig wie Evolution oder Negentropie die beste aller möglichen Lebewesen erschaffen muss. Die Frage nach dem richtigen Weg, die Dinge «zusammenzuhalten», scheint aus der Perspektive der Macht auf allen Ebenen emergenter Ordnung offen zu sein. Trotzdem scheint es heute mehr denn je notwendig, einige Normen und Regeln dafür zu finden, was eine «gute» Nutzung natürlicher Ressourcen und eine «gute» Umwelt sein könnte, ebenso wie die Frage, wie eine «gute» Gesellschaft aussehen könnte. Wenn es einen richtigen und einen falschen Weg gibt, die Dinge auf allen Ordnungsebenen – der materiellen, der organischen und der kulturellen – zusammenzuhalten, dann gibt es vielleicht eine ethische Dimension für das gesamte Universum und nicht nur für menschliches Handeln. Vielleicht müssen wir die Grundlagen der Ethik neu überdenken und nach dem «Guten» suchen – jenseits davon, es als eine Qualität menschlichen Handelns oder gar der Politik allein zu betrachten.

Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit und freue mich auf die Diskussion!

 

Protokoll des Gesprächs

Miribal dankt ihrem Sohn und auch den Anwesenden für ihre Aufmerksamkeit und bittet zuerst Heinz von Foerster um seinen Kommentar und Kritik.

Heinz von Foerster (HvF): Lieber Amot. Ich bin sehr beeindruckt von den Ideen, die du uns freundlicherweise vorgetragen hast. Vor allem fand ich es interessant, aber ebenso fragwürdig, dass du so radikal zwischen den Operationen eines lebenden Systems und den Operationen der menschlichen Psyche und der Gesellschaft unterscheidest. Ist es doch gerade eine der wichtigsten Entdeckungen – oder man könnte sagen Fortschritte – der Kybernetik, dass der Beobachter sich selbst, das heisst das wissenschaftliche Denken und alles, was dahinter und daraus entsteht, selbst als kybernetisches System betrachtet. Ich habe dies «Second Order Cybernetics» genannt, oder die Kybernetik der Kybernetik. Diese Idee besagt, dass wir nicht nur geschlossene Systeme beobachten und beschreiben, wie dies für gewisse Maschinen und lebende Systeme der Fall ist, sondern wir sind selbst geschlossene Systeme und operieren nach den gleichen Prinzipien. Die Kybernetik beschreibt, wie die Outputs eines Systems wieder zu Inputs werden und somit das System sich selbst steuert. Wenn wir nun das, was wir beobachten und beschreiben, als Teil unserer eigenen Operationen betrachten, dann ist das Wissen, das wir konstruieren, durch unser Denken und Handeln ein Output in die Welt, die uns wiederum beeinflusst und zu weiterem Wissen und Handeln führt. Demnach ist das, was du Sinn oder Macht nennst, im Prinzip nichts anderes als eine interne Informationskonstruktion, wie dies bei jedem kybernetischen System der Fall ist, und somit nicht etwas ganz anderes, das sogar als dritte Ebene emergenter Ordnung betrachtet werden muss. Nicht nur ist die kognitive Leistung eines Organismus – zum Beispiel Essen zu finden oder Gefahren zu entkommen – abhängig von interner Informationskonstruktion, sondern ebenso sind unsere Theorien darüber nichts weiter als Konstruktionen, die sich gleich wie die Konstruktionen eines Organismus bewähren müssen. Also was du unterscheidest, nämlich eine Kraft der Negentropie und eine Kraft des Sinnes, die du Macht nennst, ist genau das, was die Kybernetik absichtlich zusammen und als Eines betrachtet. Wie schon von Bertalanffy und Wiener sagten: Die Systemtheorie ist eine universelle Theorie, die alles, inklusive sich selbst, erklären will. So etwas wie eine fundamentale Kraft, die du Macht, nennst, die irgendwie ausserhalb der Prinzipien der Kybernetik operiert, ist nicht nötig, um die Welt zu erklären.

Amot Nussquammer (AN): Verehrter Professor von Foerster. Sie haben natürlich recht, den Finger genau auf diesen Punkt zu legen. In der Tat möchte ich behaupten, dass es ganz wichtige und sogar entscheidende Unterschiede gibt zwischen den Prinzipien – ich spreche lieber von fundamentalen Kräften –, die das Leben organisieren, und denjenigen Prinzipien oder Kräften, die Sinn schaffen. Ich gebe Ihnen recht: Organismen sind als kybernetische Systeme zu betrachten, weil sie geschlossene Systeme sind, die sich selbst durch die Konstruktion von Information «steuern». Kybernetik ist ja die Wissenschaft der Steuerung und beschreibt selbststeuernde Systeme. Das klassische Beispiel ist das vom Thermostat gesteuerte Heizungssystem in einem Haus, bei dem das System das Haus heizt, bis eine bestimmte Sollwert-Temperatur erreicht wird. Dies ist der Output des Systems. Der Thermostat nimmt diese Umweltänderung als Information auf, die das System so steuert, dass die Heizung ausgeschaltet wird. Lebende Systeme sind nicht nur selbststeuernd, wie es einige Maschinen sein können, sondern sie sind auch selbstorganisierend. Sie produzieren sich selbst. Ob es sich um eine Maschine oder um einen Organismus handelt: Was beide gemeinsam haben, ist, dass sie sich selbst aufgrund von Information steuern. Dies aber setzt voraus, dass sie sich von einer Umwelt klar unterscheiden und somit ihre Operationen auf sich selbst beziehen können, und zwar nur auf sich selbst. Der Thermostat registriert nur Änderungen der Temperatur in einem Zimmer, aber nicht, wie viele Menschen sich darin aufhalten oder was sie tun. Ein Frosch registriert nur schnell bewegende schwarze Flecken, aber nicht die Musik, die in der Nähe des Teichs gespielt wird. Macht dagegen oder Sinn bezieht sich auf alles, ohne Grenzen. Sinn ist nicht ein geschlossenes System. Es gibt nichts ausserhalb von Sinn, das als Umwelt dienen könnte. Auch was sinnlos ist, hat irgendeinen Sinn. Es gibt nichts, das nicht in der Reichweite von Sinn existiert oder durch Sinn transformiert werden kann. Welche Wissenschaft ist zufrieden, nur einen Teil der Realität zu erforschen und alle Beziehungen zu anderen Wissenschaften und somit zum Wissen als solches abzubrechen? Ist nicht die Behauptung, dass die Systemtheorie eine «universelle» Wissenschaft sei, genau die Bestätigung dieser Grenzenlosigkeit von Sinn? Dies gilt auch für Macht. Welche Gesellschaft war je zufrieden, nur in den eigenen Grenzen zu bleiben und nicht alles, was darum herum sich befand, auch in irgendeiner Art und Weise zu kontrollieren? Als fundamentale Kraft betrachtet will Macht alles verbinden und kontrollieren; Negentropie dagegen will bloss die Homöo-stase eines Lebewesens aufrechterhalten und in der richtigen Art und Weise auf die Umwelt reagieren. Organismen wollen Energie aufnehmen und benutzen, um eigene Strukturen aufzubauen und sie zu erhalten, aber nicht um alles, was es gibt, unter Kontrolle zu bringen. Aus diesem Grund kann Sinn nicht in der gleichen Art und Weise verstanden werden wie das Leben. Sinn und – wie oft in der Geschichte der Menschheit bemerkt wurde – Macht kennen keine Grenzen. Der Bedarf an Energie für die Menschen ist unendlich. Im Prinzip beansprucht Sinn/Macht das ganze Universum. Dagegen lebt ein Organismus in einer Nische und grenzt sich von seiner Umwelt operationell, aber auch – wie Sie betonen – informationell ab. Sinn ist weder operationell noch informationell geschlossen und bildet demnach kein System, das kybernetisch beschrieben werden kann. Zu sagen, dass Sinn sich selbst steuert, ist zu sagen, dass alles, was es gibt, sich selbst steuert, was aber keinen Sinn ergibt, da es ein «selbst» nur im Unterschied zu einem anderen geben kann. Ein Organismus kann nur im Unterschied zu einer Umwelt existieren. Sinn aber hat keine Umwelt, genau wie die Macht nur von einer anderen Macht, aber nicht von der Natur begrenzt werden kann. Aus diesem Grund finde ich es angebracht, ein fundamentales Prinzip oder eine Kraft zu postulieren, die für die Existenz und Operationsweise von Sinn und die Durchdringung unserer Welt von Macht verantwortlich ist.

Humberto Maturana (HM): Ich möchte mich dem anschliessen, was Heinz soeben gesagt hat. Ich erforsche das Leben. Und als ich mich fragte, was besonders ist am Leben, stellte ich fest: Wo immer ich hinschaute, sah ich zirkuläre Prozesse. Moleküle und ihre Interaktionen führten zu den gleichen Molekülen und den gleichen Interaktionen und Prozessen. Lebende Systeme operierten, um diejenigen Komponenten und Prozesse, aus denen sie bestehen, wieder und wieder in zirkulärer Art und Weise zu produzieren. Ich nannte dies «autopoiesis» oder Selbst-Produktion. Als ich mich dann fragte, wie es möglich ist, dass autopoietische Systeme ihre Operationen ausschliesslich auf sich selbst richten, lag die Antwort darin, dass sie sich streng von ihrer Umwelt trennen müssen. Ein Löwe zum Beispiel muss irgendwie «wissen», dass er ein Löwe ist und nicht ein Zebra, damit er «weiss», dass er Zebras jagt und nicht Gras frisst. Was ist dieses «Wissen»? Natürlich haben sogenannte «höhere» Lebensformen ein zentrales Nervensystem, ein Hirn, das heisst ein Organ der Kognition, das Information aus Sinnesempfindungen konstruiert. Wie Heinz oft gesagt hat: Das Auge sieht nicht Blumen, sondern es sind Nervenimpulse, die aus dem Kontakt mit Licht entstehen – Blumen sieht nur das Hirn. Aber jedes Lebewesen operiert gleich, also muss jedes Lebewesen seine Operationen aufgrund einer Form von Kognition, also Informationskonstruktion steuern, und diese Information muss, wie alles andere im Lebewesen, vom Lebewesen selbst stammen oder vom Lebewesen konstruiert werden. Jedes Lebewesen kann nur das sehen, was es sehen kann, je nach seiner eigenen internen Organisation. Wenn Information «richtig» konstruiert wird, kann das Lebewesen auf Umweltänderungen so reagieren, dass es seine Autopoiese fortsetzen kann. Wenn aber die Information «falsch» kon-struiert wird – wenn also zum Beispiel der Löwe meint, der menschliche Jäger sei ein Zebra und beim Angriff erschossen wird –, dann verschwindet das Lebewesen. Wir sagen, dass Lebewesen, die nicht verschwinden, an ihre Umwelt «angepasst» sind. Die Tatsache, dass Lebewesen in einer Umwelt leben, bedeutet also, dass diese Lebewesen so mit ihrer Umwelt gekoppelt sind, dass die Information, die ihre Operationen steuert, das weitere Leben ermöglicht, und mehr nicht. Es sagt nichts über die Welt aus. Information ist weder wahr noch falsch, sondern fördert oder hindert die Autopoiese des Systems, das heisst das Leben. Also was will ich sagen? Ich will sagen, dass das, was du als Sinn betrachtest, das heisst die Information, die wir aus den Einwirkungen der Umwelt auf unsere Sinnesorgane konstruieren, nichts anderes ist als ein Effekt unserer Kopplung mit der Umwelt, wovon wir nichts wissen, das heisst wie diese Umwelt wirklich ist. Wissen, oder was du Sinn nennst, ist eine Information, die ermöglicht, dass wir leben. Dies gilt für alle Formen des Lebens inklusive der menschlichen Kognition und der daraus entstehenden Kultur und Gesellschaft. Es gibt also kein besonderes Prinzip, das du Macht nennst. Es gibt nur operationell und informationell geschlossene Systeme, von denen der Mensch und die Gesellschaft sich nicht unterscheiden.

AN: Sehr geehrter Herr Dr. Maturana, natürlich kenne ich Ihre hervorragende Arbeit über die Theorie der Autopoiese und die Folgen, die Sie für das Verständnis der Welt des Menschen daraus ziehen. Was mich dazu bewegt, ein besonderes universelles Prinzip oder eine Kraft für die Formen der Ordnung, die man Sinn nennen kann, zu postulieren, ist Folgendes: Sie haben mit Recht gesagt, dass die Prozesse des Lebens zirkulär sind. Ein lebendes System operiert ausschliesslich (damit ist der Ausschluss der Umwelt mitgemeint) mit sich selbst. Aber es ist gerade diese Zirkularität, diese Geschlossenheit, die ich in allem, was Sinn hat, vermisse. Sinn führt zwar zu weiterem Sinn. Ein gesprochener Satz führt zu weiteren Sätzen. Aber was daraus entsteht, ist nie das Gleiche, sondern immer etwas anderes. Welche Theorie, welche Gesellschaft, so konservativ sie sein mag, operiert nur, um die gleichen Komponenten und Relationen zu produzieren, die sie vorher hatte? Zeigt uns nicht der Lauf der Menschheitsgeschichte, wie unsicher, wie variabel, wie unvorhersehbar das Denken, das Handeln der Menschen und der Lauf der Geschichte sind? Wo die Welt der Biologie uns überall die Suche nach Stabilität und Aufrechterhaltung der gegebenen Zustände und Prozesse zeigt, bezeugt die Menschheitsgeschichte genau das Gegenteil. Dennoch handelt es sich beim Sinn offensichtlich um eine Form der Ordnung. Woher kommt diese Ordnung, die nichts ausschliesst, die keine Grenzen kennt, die ihre Operationen auf alles, was es gibt, ausdehnt und ständig etwas anderes produziert? Löwen setzen sich nicht ein für einen nachhaltigen Zebrabestand. Sie fressen die Zebras, bis es sie nicht mehr gibt, und dann finden sie entweder andere Nahrung oder sie sterben aus. Sinn dagegen versucht, überall alles unter Kontrolle zu halten, alles irgendwie miteinander zu verbinden. Zudem: Wenn Sie sagen, die Konstruktion von Information diene der Erhaltung des Lebens, sprechen die Menschheitsgeschichte und die Macht dagegen, denn überall verlangt die Macht, dass Menschen ihr Leben für irgendwelche Ideen oder Glauben opfern. Für Sinn ist Leben billig. Wofür immer Sinn Information konstruiert, es ist nicht, um eine bestimmte Kultur oder Gesellschaft – egal was die Menschen meinen – aufrechtzuerhalten. Sinn scheint also eine andere Art von Kraft zu sein als das, was Leben ermöglicht. Deswegen postuliere ich Macht als eine solche fundamentale Kraft ähnlich wie die Gravitation oder die Negentropie. Diese Kraft ist universell, gerade weil sie nicht bloss in den Grosshirnen einiger seltsamer Primaten, die wir Homo sapiens nennen, gebunden ist, sondern überall, in allem, was es gibt, auch wenn wir noch Grosshirne brauchen, um darüber reden zu können.

Ernst von Glasersfeld (EvG): Ich möchte zu dem, was Heinz und Humberto sagten, zurückkehren, aber aus der Perspektive von dem, was du Sinn nennst und als Effekt von Macht betrachtest. Heinz plädiert dafür, dass auch das menschliche Wissen als System verstanden werden muss, und Humberto findet, dass Information nicht in der Welt zu finden ist, sondern das ist, was nur intern in einem System mit einem Hirn irgendwelcher Art konstruiert wird. Dies widerspricht dem, was du soeben ausgeführt hast, nämlich, dass Information überall ist und irgendwie in allen Dingen vorhanden ist. Die Welt besteht nicht aus Information, sondern Information wird in der Welt von einigen Organismen konstruiert. Man kann diese Information Sinn nennen, es macht keinen Unterschied, denn wie immer wir es nennen, ist es eine Konstruktion. Information wird intern im System gemäss der Organisation des Systems konstruiert, denn Information hat eine spezifische Funktion. Sie steuert die Operationen eines Systems. Information, die nicht eine Funktion für ein System erfüllt, wäre gar keine Information. Dies führt unvermeidlich zum Schluss, dass Wissen oder Wahrheit überhaupt nichts mit der Umwelt zu tun hat, sondern ausschliesslich mit der internen Organisation des Systems und dem Bedürfnis des Systems, sich aufrechtzuerhalten. Kurz, wenn wir meinen, etwas zu wissen, gilt dieses Wissen als wahr nur insofern, als es erlaubt, dass wir weiter operieren bzw. leben können. Wissen ist also nicht «wahr», sondern im besten Fall «viabel», das heisst, es erlaubt uns, weiterzuleben. Wissen oder Sinn, wie du es nennst, ist nichts anderes als eine Adaptation des Organismus zur Umwelt, in der es lebt, denn solange ein Organismus leben kann, spielt es gar keine Rolle, ob das, was es zu wissen «denkt» oder meint, die Umwelt richtig abbildet, sondern bloss, ob es erlaubt, dass der Organismus weiterleben kann. Ich nenne diese Sicht «radikaler Konstruktivismus», da es behauptet, alles Wissen sei nur eine Konstruktion des Wissenden und sage demnach nichts über die Welt an sich aus. Philosophien, Kulturen, Gesellschaften, Religionen – alle haben kein Wissen über die Welt, wie sie wirklich ist, sie haben nur eine im Moment «viable» Informationskonstruktion. Dies gilt für die einfachsten Lebewesen bis hinauf zu Grosskulturen und die menschliche Gesellschaft. Macht, wie du das Prinzip nennst, die das Denken und die Gesellschaft organisieren soll, ist nichts anderes als die erfolgreiche Adaptation eines geschlossenen Systems an seine Umwelt. Und dies ist nichts anderes als das, was du Negentropie nennst, aber sicher nicht ein völlig anderes Prinzip oder sogar eine fundamentale Kraft für sich.

AN: Danke, Professor von Glasersfeld, für diese Kritik meiner These, denn es erlaubt mir, einige Gedanken vielleicht klarer zum Ausdruck zu bringen, als ich das im Vortrag konnte. Das Wort «Adaptation» ist wichtig, denn man muss sich fragen, auf was Gedanken und sogar Kulturen, Religionen, Philosophien und Gesellschaften adaptiert sind. Was ist, mit anderen Worten, die Umwelt, woran sich Sinn anpassen muss? Für einen Organismus gibt es die Schranken der Natur. Wenn das Wasser in den Flüssen und Seen austrocknet, sterben die Fische aus. Sie können sich nicht – zumindest nicht in kurzer Zeit – auf veränderte Umweltbedingungen einstellen, oder wenn dies passiert, dann nur durch zufällige Variationen in ihrer DNA und die natürliche Auslese, kurz: Evolution. Was aber sind die Umweltbedingungen, die das Denken und die menschlichen Kulturen und Gesellschaften einschränken? Wenn das Wasser verschwindet, bohren die Menschen tief in die Erde, um Wasser zu finden, oder sie setzen andere Technologien ein. In der Tat, wie die Geschichte lehrt, entstehen und vergehen Zivilisationen, Kulturen und Religionen, aber warum? Nicht, weil sie Information falsch konstruiert haben, wie die Fische, die immer noch nach Wasser suchen, obwohl es keines mehr gibt. Was macht ein Gedanke, eine Kultur oder eine Gesellschaft, wie Sie sagen, «viabel»? Man könnte sich eine Art natürliche Selektion vorstellen und von der «Evolution» von Kulturen und Gesellschaften sprechen. Dies würde dafür sorgen, dass Ideen und Gesellschaften, die nicht «viabel» sind, untergehen und neue, lebensfähigere entstehen. Aber die Menschheitsgeschichte zeigt uns nicht ein solches Gleichgewicht zwischen Gesellschaften und Natur. Ganz im Gegenteil. Sinn scheint darauf gerichtet, alles, was in der Natur vorzufinden ist, zu ändern und für eigene Zwecke zu nutzen, egal was die Kosten für das Leben sind. Auch die Beziehungen unter den Menschen ähneln in keiner Art und Weise dem Verhalten von Lebewesen. In der Natur bekriegen sich die verschiedenen Organismen nicht. Es gibt zwar eine Art Wettbewerb um Ressourcen, aber nicht Krieg. Löwen führen nicht Krieg gegen Zebras. Die Menschen aber sind andauernd im Krieg gegen alles, was sie als fremd oder bedrohlich ansehen. Und es ist kaum zu bestreiten, dass nicht immer der «Beste» siegt, denn mangels natürlicher Einschränkungen gibt es keinen Massstab für das, was das «Beste» sein mag. Was ist der beste Sinn? Die beste Religion, Philosophie, Kultur oder Gesellschaft? Wenn die Natur nicht entscheidet – wie dies mittels natürlicher Auslese bei Lebewesen geschieht –, wer denn? Nach welchen Kriterien? Die Philosophen seit Platon haben versucht, das zu tun. Die politische Philosophie soll uns sagen, was die gerechte, die gute Gesellschaft ist. Dass es keine Einigung über die Frage seit über 2000 Jahren gibt, zeigt, dass Macht im Gegensatz zum Leben nicht eine Anpassung an irgendwelche Umweltbedingungen sein kann. Ganz im Gegenteil, Macht ist ein Streben nach Universalität und Kontrolle über alles. Man kann zwar sagen, dass jede Sprache nur eine unter vielen ist, aber jede Sprache behauptet, alles, was gesagt werden kann, sagen zu können. Und wer kann sagen, dass eine Sprache «besser» oder «viabel» ist, während eine andere dies nicht ist? Aus diesem Grund finde ich es plausibel zu behaupten, dass Sinn eine Ebene emergenter Ordnung für sich und nicht den gleichen Prinzipien oder Kräften, die lebende Systeme organisieren, unterworfen ist.

Jari Weidenbaum (JW): Ah, Herr Nussquammer, eine ganz aussergewöhnlich in-spirierende These! Gerne wüsste ich aber von Ihnen ein konkretes Beispiel beziehungsweise eine Anwendung.

AM: Danke, Herr Dr. Weidenbaum, für diese sehr direkte und herausfordernde Frage! Lange habe ich darüber nachgedacht, was diese These über die Macht als universelles Prinzip der Ordnung auf der Ebene von Sinn konkret bedeutet. Kurz: Was für einen Unterschied macht es, wenn Macht die Kraft ist, die die ganze Welt regiert, also die Kraft, die nicht nur die Politik und das menschliche Zusammenleben bestimmt, sondern die Welt überhaupt? Zunächst bedeutet es, dass Macht nicht ausschliesslich etwas «Politisches» ist. Die Politik ist nur eine Art, in der die Macht unsere Welt bestimmt. Es gibt Macht überall, nicht nur in der Politik. Dass wir gegenwärtig von der Politik regelrecht fasziniert sind und uns dauernd über politische Macht aufregen – und uns sogar für oder gegen die jetzigen Regierungen engagieren –, ist vielleicht eine vorübergehende Obsession, die wir einmal hinter uns lassen, um uns dann auf «konstruktivere» Fragen zu fokussieren. Es wäre zumindest eine ernst zu nehmende Möglichkeit. Was aber würde es bedeuten, wenn Macht nicht bloss politisch, aber noch mehr: auch nicht bloss menschlich ist?

Die These behauptet, glaube ich, dass die Politik eigentlich nichts mehr zu tun hat, obwohl wir heute fast alles von der Politik erwarten. Die Politik soll die Gesellschaft steuern, und zwar so, dass Frieden, Sicherheit und Wohlstand daraus entstehen. Diese Aufgabe aber ist seit Jahrhunderten nur auf der Basis zweier höchst problematischer Annahmen begründet. Erstens hat die politische Philosophie immer zwischen einem Naturzustand, in dem die Menschen ohne Politik, ohne Regierung, ohne Staat lebten, und dem Zustand innerhalb einer Gemeinschaft, der von Politik und Macht in irgendwelchen Formen bestimmt wurde, unterschieden. Je nachdem, wie der Naturzustand beschrieben wurde, entweder als friedlich und geordnet oder als kriegerisch und chaotisch, ergaben sich andere Ideen über das, was Politik sein soll. Zweitens hat die politische Philosophie zwischen Freund und Feind unterschieden. Die Macht hat somit immer die Aufgabe gehabt, die Gemeinschaft der «Freunde» gegen die «Feinde», die Fremden, die anderen, das heisst gegen alle diejenigen, die nicht Mitglieder unserer Gemeinschaft waren, zu schützen. Macht war also immer damit beschäftigt, die menschliche Gesellschaft einerseits gegen die Natur und anderseits gegen andere Gesellschaften zu etablieren und zu sichern.
Wenn aber die Macht nicht gegen die Natur operiert, sondern, wie ich vorschlagen möchte, zusammen mit der Natur, das heisst zusammen mit den Dingen, den Tieren und den Pflanzen für Ordnung schauen soll, sind es nicht nur die Menschen, die Macht ausüben, sondern es sind alle Wesen gleichberechtigt. Dies bedeutet, dass Macht nicht mehr als Herrschaft über etwas verstanden werden kann, sondern als Kraft der Ordnung in einer Welt, wo alle Wesen aufeinander angewiesen sind, wo kein Wesen, ob Mensch oder Stein oder Tier, andere versklaven darf. Wie heute noch viele sogenannte «primitive» Völker und auch die Nienetwiler und Nienetwilerinnen dachten und denken, hat jedes Wesen eine «Stimme» und damit ein Recht darauf, «gehört» zu werden. Die Natur darf also nicht von den Menschen beherrscht werden. Wenn einmal Sinn als Ebene emergenter Ordnung erscheint, kann nicht mehr behauptet werden, dass es eine Natur an sich, ohne Menschen und ohne Kultur gibt. Ab diesem Moment braucht die Natur, die Tiere und Pflanzen, uns Menschen genauso, wie wir Menschen sie brauchen. Wenn Mitglieder traditioneller Gesellschaften behaupten, die Erde gehöre nicht den Menschen, sondern die Menschen gehörten der Erde, drücken sie diese Auffassung von Macht aus.
Angesichts der zweiten Unterscheidung zwischen Freund und Feind folgt aus dem Verständnis von Macht als universelles Prinzip der Ordnung, dass Politik nicht mehr auf Basis verschiedener Staaten oder Nationen operieren kann, sondern nur auf universeller oder globaler Basis. Dies ist der Grund, warum ich behaupte, dass die Politik heute nichts zu tun hat. Denn heute und seit jeher ist Politik nur innerhalb der Grenzen von sogenannten Nationalstaaten realisierbar. Ausserhalb der Nationalstaaten herrscht, wie Hobbes schon sagte, der Krieg von allen gegen alle. Dies führt nicht zur Bewahrung von Frieden oder Sicherheit, ganz im Gegenteil, die Welt von heute ist eine globale Gesellschaft. Wann immer die Politik aus den Interessen eines Nationalstaates versucht, die Weltgesellschaft zu «steuern», verursacht dies nur Chaos und Krieg. Politik handelt nur im «nationalen» Interesse. Die Gesellschaft aber ist global. Politik muss also verschwinden und Formen der globalen Regulierung Platz machen, deren Anfänge wir heute schon sehen in der Vereinigten Nationen und anderen global operierenden Regulierungsinstitutionen. Ich gebe zu, dass eine Politik und eine Macht, die nicht auf Basis der Unterscheidung zwischen Gesellschaft und Natur und Freund und Feind operiert, nicht Politik im üblichen Sinne des Wortes sein kann. Es müssen andere Formen der Legitimation von Macht entstehen, die nicht darauf begründet sind, die Natur und irgendwelche Feinde zu erobern und zu beherrschen. Es muss andere Formen der Ausübung von Macht geben, die viel näher an den Formen des Zusammenlebens sind, die wir aus der Nienetwiler Kultur kennen. Diese Einsicht verdanke ich meinem Vater wie auch Aciel Arbogast, die ihr Leben der Entdeckung und Verbreitung von Nienetwiler Gedankengut widmeten. Wenn Sie nach konkreten Beispielen fragen, dann möchte ich auf Nienetwil und auf die traditionellen Völker, welche Nienetwiler Gedankengut bewahren, verweisen. Wir sollten die Frage stellen: Wie würden die Nienetwilerinnen und Nienetwiler die Probleme der heutigen Welt angehen? Leider steht die Nienetwiler Forschung erst in den Anfängen, aber ich möchte mit meinen Beiträgen versuchen, das Interesse an Nienetwil wach zu halten und Menschen für Möglichkeiten, die schon lange in Vergessenheit geraten sind, zu sensibilisieren.

Notiz des Herausgebers: An diesem Punkt unterbrach Miribal die Diskussion und erklärte das Buffet für eröffnet. Miribal wäre nicht die ausgezeichnete Gastgeberin gewesen, die sie war, wenn sie nicht für das leibliche Wohl ihrer Gäste besorgt gewesen wäre. Ihre Salongespräche waren bekannt für die Leckerbissen, die sie liebevoll und mit viel Können selbst zubereitete. Man könnte sogar meinen, dass einige Gäste nur wegen dieser Köstlichkeiten gekommen waren, wobei die lebhaften informellen Diskussionen, die um das Buffet herum stundenlang geführt wurden, dieser Vermutung widersprechen würden. Auf jeden Fall könnte ich kaum die vielen Gespräche und Debatten, die den Rest des Nachmittags füllten, niederschreiben. Ich erinnere mich aber, dass Amot mir bei einem Treffen einige Wochen später an der Universität sagte, er sei tief beeindruckt gewesen, wie solche Wissenschaftler wie Heinz von Foerster, Humberto Maturana und Ernst von Glasersfeld seine Ideen ernst genommen haben. Dies war er nicht gewohnt von dem wissenschaftlichen Etablissement, da die Publikation seiner Schriften immer wieder mit fadenscheinige Ausreden von Verlegern abgelehnt wurde. Soweit ich mich erinnern kann, war dies das einzige Mal, dass Amot sich positiv über die Wissenschaft und Wissenschaftler äusserte.