Das Nienetwil-Projekt

Nienetwil – Werkstatt und Museum für visionäre Vergangenheit

Von Simon Meyer

Als ich diesen Titel 2006 oben auf ein Blatt Papier schrieb, brauchte ich Überwindung. Wer um alles in der Welt sollte das verstehen?

Aber von vorne. Als ich 2000 bei der Kantonsarchäologie Zug aufhörte, begann ich beim Paläontologischen Institut an der Universität Zürich zu arbeiten. Nun sollte niemand denken, dass ich Archäologe oder Paläontologe bin, da will ich mich nicht mit Federn schmücken, die mir nicht zustehen, nein, ich bekam beide Stellen wegen meiner handwerklichen Fähigkeiten. Denn eigentlich habe ich den Beruf des Schmiedes erlernt. Doch die Dinge nahmen einen anderen Weg und so landete ich eben bei der Paläontologie.

Bereits in der Zeit bei der Archäologie beschäftigte ich mich mit Experimentalarchäologie und mit den alten Handwerkstechniken. Schnell stellte ich fest, dass es fast unmöglich war, an gewisse Informationen zu kommen. Einerseits, weil die heutigen Handwerkerinnen und Handwerker nicht mehr wussten, wie man etwas früher gemacht hatte, und anderseits, weil ein Beruf am Aussterben war. Und als mir 2004 die Chance eröffnet wurde, für ein Projekt des damals noch existierenden Instituts für Kommunikation und Kultur (IKK) der Universität Luzern zu arbeiten, sah ich eine Möglichkeit, dem Handwerk Hilfestellung zu geben. Ende 2004 lag das Konzept «Schweizerisches Kompetenzzentrum für historisches Handwerk» auf dem Tisch des Bundesamts für Wirtschaft (SECO) und startete 2005 im Rahmen des Regionalen Wirtschaftsförderprogramms (NRP). Hauptsächlich ging es im Projekt um die Förderung des Handwerks, indem man dabei half, Handwerker und Handwerkerinnen mit Fachleuten aus den Bereichen Design, Produktentwicklung, Marketing und natürlich miteinander zu vernetzen.

Zudem sollten in Zusammenarbeit mit den Berufsverbänden Ausbildungstools entwickelt werden, die nicht nur den angehenden Berufsleuten offenstehen sollten, sondern auch interessierten Laien. Weiter sollten die Qualifikationen im Bereich denkmalpflegerischer Arbeiten gefördert werden, da hier die alten handwerklichen Techniken den grössten Bedarf fanden.

Als Schwerpunkt sollte aber das Handwerk durch die Anpassung an neue Bedürfnisse, jedoch unter Mitnahme der alten Techniken, ins 21. Jahrhundert geführt werden. Und der Schlüssel zu diesem Unterfangen war Design.

Doch wir benötigten neue Ansätze, denn die Designer wussten vom Handwerk so wenig wie die Handwerkerinnen vom Design. Und nur schon ein Gespräch auf gleicher Augenhöhe zustande zu bringen, war schwierig. Es musste also eine Vision her, die alle, egal ob aus Handwerk, Design, Kunst, Marketing oder Forschung, verband. Eine Vision, die sie in eine Welt mitnahm, die sie nicht wie die unsere durch «Standesdünkel» und Fachsprache trennte. Eine Vision, die zudem Spass machte und das Potenzial hatte, noch viel mehr zu werden.

2006 war es so weit und ich schrieb ein Konzept:

Projektpapier 060927_Nienetwil

Werkstatt und Museum für visionäre Vergangenheit (kurz: Nienetwil)

Initiator und Träger:

Das Projekt wurde 2005 durch den Leiter des WERKZEITRAUM Simon Meyer erdacht und bei der Gemeinde Marbach initiiert. Projektträger ist der WERKZEITRAUM – Schweizerisches Kompetenzzentrum für historisches Handwerk.

 

Vorgeschichte:

Die «Chrüzschüür» ist eine alte Scheune, welche mitten in Marbach steht. Sie wird zurzeit landwirtschaftlich genutzt und macht einen etwas heruntergekommenen Eindruck. Die Gemeinde Marbach ist seit einiger Zeit auf der Suche nach einem neuen Nutzungskonzept, das es ermöglicht, die Scheune einem nachhaltigen Nutzen zuzuführen, welcher für die Gemeinde grösstmögliche Wertschöpfung generiert und durch einen Umbau der Scheune auch das Dorfbild aufwertet.

Der WERKZEITRAUM seinerseits benötigt Räumlichkeiten, in denen man sich in Ausstellungen, Workshops usw. mit dem Thema der Werkzeuggeschichte, Visionen von handwerklich gefertigten Produkten, der Geschichte des Handwerks und der Nachhaltigkeit des Handwerks und dessen Produkten beschäftigen kann. Ausserdem sollen Themen wie die nachhaltige Nutzung von Ressourcen, unsere Geschichte, Visionen der Zukunft und vieles mehr behandelt werden können.

Die Gemeinde Marbach hat daraufhin ihre Bereitschaft signalisiert, die Chrüzschüür zu kaufen und umzubauen (ca. Fr. 700 000.–). Danach wird das Gebäude in den ersten drei Betriebsjahren dem Kompetenzzentrum für historisches Handwerk WERKZEITRAUM kostenlos zur Verfügung gestellt.

 

Rahmenhandlung:

Als Rahmen dient die Geschichte des Dorfes Nienetwil. Dabei gehen wir davon aus, dass das Dorf nie Kontakt zur Aussenwelt haben konnte/wollte.

Diese Voraussetzungen geben einige wichtige Fakten vor:

Da das Dorf keine Rohstoffe und Produkte im- oder exportieren konnte, war es auf eine nachhaltige Nutzung seiner Ressourcen angewiesen. Das Handwerk und überhaupt die Gesellschaft lebten mit diesem Umstand und entwickelten entsprechende Produktions- und Verfahrenstechniken.

Durch das Fehlen kultureller Fremdeinflüsse (sowohl positiver wie negativer Art) muss man sich zwangsläufig über die Entstehung der Nienetwiler Formensprache Gedanken machen. Ergibt sich die Form einer Tasse von selbst (Evolution der Form?) oder ist sie Teil einer kulturellen Formensprache, könnte sie also auch anders aussehen? Welche Konsequenzen hat diese Erkenntnis für Nienetwil? Für uns?

Die Abgeschiedenheit Nienetwils und der damit verbundene Mangel an Informationsaustausch ermöglicht zudem Gedankenspiele zu Fragen der gesellschaftlichen Organisation, Religion, Gesetzgebung usw.

Das Spielen mit und in der Geschichte Nienetwils erlaubt die Schaffung von Quasi-Paralleluniversen, in denen eine Vorgehensweise von verschiedenen Standpunkten aus beleuchtet werden kann.

Die Rahmenhandlung ist also einerseits als eigenes Projekt zu sehen, nämlich die Erfindung eines Dorfes mitsamt seiner ganzen Geschichte. Anderseits bietet die Werkstatt für visionäre Vergangenheit auf einfache Weise die Möglichkeit, sich theoretisch und teilweise auch praktisch mit einer unbegrenzten Anzahl von Themen zu beschäftigen, wobei stets ein professionelles Team und die Netzwerkpartner die Arbeiten unterstützen oder begleiten können.

Der Schmied Michael Aeschimann in der „Oberen Schmitte“ in Beromünster.

Ziele des Projekts:

Hauptsächlich geht es, wie bei allen Projekten von WERKZEITRAUM, um eine Vernetzung von Partnern und Wissen.

Die unter Punkt C aufgeführten Faktoren ermöglichen es, verschiedene weitere Projekte zu lancieren, welche sich u. a. damit beschäftigen:

Aufgrund der zu erfindenden Formensprache und der Beschäftigung damit werden wir neue marktfähige Produkte für das Handwerk entwickeln. Die Geschichte Nienetwils, das Projekt Nienetwil und die damit verbundene Philosophie geben der Produktmarke «Neverware©» mehr Gewicht, sind also u. a. ein geeignetes Marketinginstrument.

Das Projekt ermöglicht Hochschulen, Universitäten, Organisationen und Privatpersonen zielorientierte Gedankenspiele und Experimente zu allen nur denkbaren Themen. Design, Handwerk, nachhaltiges Wirtschaften und Geschichte geniessen zwar eine gewisse Priorität, diese soll jedoch die Beschäftigung mit anderen Themen nicht ausschliessen.

 

Die UNESCO Biosphäre ist ein geeignetes Umfeld für das Projekt Nienetwil. Im Gegenzug soll Nienetwil auch der UBE als Thinktank dienen, in welchem Strategien, Ideen und Visionen durchgedacht und vorformuliert werden können. Das Projekt fördert ausserdem das Gewerbe in der UNESCO Biosphäre Entlebuch, indem es die in Punkt D.1 [nur im vollständigen Dossier enthalten] angedeuteten Produkte u. a. hier in der Region fertigen lässt und zudem neue Impulse für die Wirtschaft in der UBE setzt.

Die Gemeinde Marbach gewinnt durch das Projekt insbesondere im Bereich Tourismus. Verschiedene Kleinprojekte, Tagungen, Workshops usw. werden sich ebenfalls gewinnbringend auf die Gemeinde auswirken.

Der WERKZEITRAUM kann mit diesem wichtigen Teilprojekt sein Netzwerk festigen und erweitern, gewinnt neue Partner und Know-how.

Die Entwicklung Nienetwils, d. h. dessen Geschichte und Artefakte, wird im Museum Nienetwil ausgestellt. Dieses soll den Besucherinnen und Besuchern die Gelegenheit bieten, sich mit grundsätzlichen Fragen der Geschichte, des Designs, des nachhaltigen Umgangs mit Ressourcen, des Handwerks der Vergangenheit und der Zukunft zu beschäftigen. Fragen wie: «Was passiert, wenn ich das und das tue?» können innerhalb eines gewissen Rahmens simuliert und ausprobiert werden.

 

Wieso Nienetwil?

Die Wortschöpfung Nienetwil setzt sich zusammen aus «Nienet» = «nirgends» und dem Suffix «wil» = «Weiler». Nienetwil bedeutet demnach «nicht existierende Siedlung».

 

Wieso Werkstatt und Museum für visionäre Vergangenheit?

Wieso soll nur die Zukunft visionär sein? Ist unser Blick auf die Vergangenheit denn so viel klarer, endgültiger? Oder ist es nicht eher so, dass wir unser Bild des Vergangenen ständig revidieren und anpassen müssen? Lernen wir von der Vergangenheit? Und wenn ja, von welcher? Zu sagen: «Es hat keinen Sinn, sich vorzustellen, wie es hätte sein können, es ist nun, wie es ist!», scheint grundlegend falsch. Das Lernen bedingt immer den Miteinbezug mindestens einer Alternative: «Uups, ich habe den roten Draht durchgetrennt; hätte ich den blauen genommen, würde das Haus noch stehen!» – Die Alternative wäre also Blau gewesen.
Wie sähe die UNESCO Biosphäre Entlebuch heute aus, wenn dort früher nicht Glas hergestellt worden wäre? Wenn nicht riesige Holzbestände vernichtet worden wären? Hätten sich andere Industriezweige oder Gewerke angesiedelt? Welche Alternativen zu dem, was wir heute tun, gäbe – nein, gibt es?

Die Werkstatt für visionäre Vergangenheit erlaubt es uns, an der Vergangenheit zu arbeiten und dabei für die Zukunft zu lernen.

Das Museum für visionäre Vergangenheit ermöglicht es uns ausserdem, die Früchte dieser Arbeit zu sehen, spielerisch zu lernen, oder ganz einfach zu staunen.»

Leider, das kann man im Nachhinein wohl sagen, war das Projekt zu visionär. Obwohl viele Partner mitmachen wollten, wurde es insbesondere von der Standortgemeinde torpediert. Nach zwei Jahren, in denen wir vergeblich an der Verwirklichung arbeiteten, gaben wir auf.

Das Projekt ruhte, flackerte ab und zu wieder auf, streckte mal hier, mal dort die Fühler aus, verkroch sich aber immer wieder in die alte Höhle und schlief weiter. Derweil es schlief, tat ich anderes und wartete auf den Moment, in dem die Zeit reif für eine Vision wie diese war.

2020 flackerte plötzlich die Mai-Sonne in die alte Bärenhöhle. Nach zwölf Jahren blinzelte die Vision Nienetwil ins Licht und las in einer E-Mail:

«Hello Simon

Kannst mir alles, was du über die Nienetwil-Kultur hast, senden. Bin am Überlegen, ob dies nicht ein neues Projekt werden könnte.

Grüsse

David»

Die Vision räkelte sich, streckte sich, stand auf und sah aus der Höhle in eine Welt, die nicht mehr dieselbe war. Aber die Sonne schien und es war Frühling. Und zudem war es David Krieger, der da geweckt hatte.

Wir gehen das Projekt also wieder an. Kleiner diesmal, anders, aber nicht weniger energiegeladen und visionär: mit dem neuen Projekt «NIENETWIL – Museum und Werkstatt für visionäre Vergangenheit» (wobei die Werkstatt dieses Mal durchaus auch die geistige Werke entstehen lassen kann.


  1. Inhaltsverzeichnis CRN 1-2020-1
  2. Einleitung der Herausgeber
  3. Vorwort
  4. Das Nienetwil-Projekt
  5. Was ist «visionäre Vergangenheitsforschung»?
  6. Biografie von d’Aciel Arbogast I.
  7. Die Stellung des Handwerks und Werkzeugs in der Nienetwiler Kultur
  8. Biografie Amot Nussquammer sen.
  9. Einführung in die Nienetwiler Kultur von Amot Nussquammer sen.
  10. Briefverkehr zweier Freunde und Streithähne
  11. Ursprung der Nienetwiler Kultur
  12. Biografie Nomis Arbogast
  13. Fundbeschreibung und eine kleine Zeitreise in die Nienetwiler Kulturgeschichte
  14. The Alaju Settlement – Auszug aus der Autobiografie
  15. Ausblick CRN Nr. 2
  16. Impressum-Autoren CRN 1-2020-1