Vorwort CRN 4-2022-1

Zurück zum Inhaltsverzeichnis CRN 4-2022-1 LINK


Simon Meyer In der Sprache der Skandaj heisst Spiel kuku (siehe Die Wörter kuku, toho und musei). Der Begriff lässt sich auf die beiden Ur-Alaju-Wortstämme *kh- = spüren und *ku- = erforschen, erfahren zurückführen.
Gemeint ist dabei jedoch nicht das Erfahren durch Spüren, sondern das Erfahren von Grenzen, Zusammengehörigkeiten, Verbindungen zwischen den Dingen. Es bedeutet Wissen, Können und das Ausser-Acht-Lassen derselben, ein Nicht-in-der-Ordnung-Sein und nicht im Chaos sein – kurz, in heiterer Gelassenheit sein.

Im Gegensatz zu den westlichen und auch fernöstlichen Kulturen, in denen stets ein Zwist, ja ein Kampf zwischen Ordnung und Chaos herrscht, gibt es dieses Auseinanderklaffen bei den Skandaj nicht. Auch die Wertung, dass Chaos schlecht, Ordnung aber gut sei, fehlt in der Nienetwiler Kultur (Siehe CRN N° 1-2020/1) ganz. Das Wort toho, das wir mangels eines besseren deutschen Wortes mit Chaos übersetzen, bedeutet nichts Schlechtes. Es meint lediglich, dass Zustände im Fluss sind und noch nicht eine durch Vermittlung festgelegte, wenigstens momentane, also temporäre Struktur gefunden haben.

Die geordnete Welt, wie sie seit vielen Hundert Jahren in Ost und West propagiert und durch wissenschaftliche Fehlleistungen postuliert wird, gibt es in der Erfahrung der Nienetwiler nicht. Im Gegenteil! Das Chaos ist ein entscheidender Aspekt der Nienetwiler Kultur. Dies, weil es sich der Ordnung, welche sich auch in der digitalen Welt nicht wirklich definieren lässt, entzieht und so den Weg für die Erfahrung ausserhalb einer Ordnung oder – wenn man so will – Hierarchie machen lässt.

Das ganze Universum ist ein sich durch eine stets verändernde Zahl und Art von Einflüssen selber ordnendes Chaos.

Den bei den Skandaj bekannten Satz «hen·plo» etwa zu übersetzen mit «alles fliesst, alles ist im Fluss», hat der mit dem Skandaj Ekio Nedal gut befreundete Herakleitos auf Griechisch mit «panta rhei» übersetzt. Heraklit hat sich viele Gedanken gemacht, aber seiner Zeit wird es geschuldet sein, dass er nur die Hälfte verstand. «hen·plo» meint nicht nur, dass alles in ständigem Fluss und einem steten Wandel unterworfen ist. Es meint zudem, dass man in diesem Fluss mitschwimmen soll.

Johann Wolfgang von Goethe nahm in seinem Gedicht «Dauer im Wechsel» den Gedanken wie folgt auf:

«Gleich mit jedem Regengusse
Ändert sich dein holdes Tal
Ach, und in demselben Flusse
Schwimmst du nicht zum Zweitenmal»

Doch wie Herakleitos verstand auch Goethe nicht, dass es nur ein Fliessen gibt – das Fliessen aller Dinge, die in diesem Fliessen stets miteinander verbunden sind.

Erst die Griechen, dann die Araber, Juden und Chinesen im Hochmittelalter, dann die Aufklärung des Westens und die modernen Wissenschaften haben versucht, dieses Fliessen zu ordnen. Was für eine Dummheit! Heutzutage versuchen es Algorithmen, und sie scheitern ebenso kläglich. Weshalb ist das so? Weil das Fliessen zu komplex ist. Der Mensch, die Welt, das Universum sind zu komplex dafür.
Ob Mensch oder Maschine, sie vermögen nur Aspekte des Seins – der Verbindung zwischen den Menschen und gabe [Alaju: gabe = Ding; Anm. der Hrsg.], also allem im Universum – zu erkennen und zu berechnen.
Diese wenigen Gesichtspunkte zu berechnen, mag für diesen oder jenen Prozess in einem System genug sein, aber er ist nicht genug, um die tatsächlichen Verbindungen zu erkennen.

Den Nienetwilerinnen und Nienetwilern ist dies alles wie ein Spiel, ein Tanz, wenn man so will: ein chaotischer Reigen, der dennoch seine Ordnung hat, und wo keine Ordnung ist, ist sie einfach nicht. Das macht nichts, denn es wird alles früher oder später in Bahnen geraten, die das Geschehene verstehen lassen (jedoch nicht unbedingt in Ordnung kommen lassen, wie oft geglaubt oder gehofft wird).

Was Lynn Margulis und James Lovelock als Gaia-Hypothese beschrieben und der Philosoph Bruno Latour neuerdings so vehement propagiert, ist im Sinne der Nienetwiler nichts anderes als die Einsicht, dass alles alles beeinflusst. Dieses Spiel spielen die Nienetwilerinnen und Nienetwiler seit einer Million Jahren und es ist genau diese Erkenntnis, die wir ihnen abringen wollen.

In der Nienetwiler Kultur gibt es, wie auch in anderen Kulturen, eine Unmenge an Spielen.
Diesen Spielen ist, ausser dass sie Freude bringen und verbinden sollen, eines gemeinsam: Sie alle zielen darauf ab, zu verstehen. Was gibt es zu verstehen? Es gibt zu verstehen, dass absolut jede Handlung und jede Nichthandlung Einfluss ausüben. Egal ob es Fussball ist oder ein Spiel, das der Überlieferung von Informationen dient, ob es ein Tanz oder ein Musikspiel ist: Sie alle lehren die Beteiligten, wer sie sind und in welcher Verbindung sie mit den anderen Akteuren stehen, welchen Einfluss die Menge an anderen und welchen Einfluss sie an den anderen ausüben.

Die Arbogasts, egal ob sie nun blutsverwandt sind oder nicht, denn das spielt bei den Skandaj keine Rolle, haben eine Art «Familienmotto»: «ah.kuta.kwasi.eka.ieh; he.be.ieh.aheii», also «In dem Mass der Gewissheit, wer du bist, wird das Vermögen zu sein vermehrt». Dieser Satz ist universell und kann in jede erdenkliche Form abgewandelt werden: «In dem Mass der Gewissheit, mit wem du spielst, wird das Vermögen zu spielen vermehrt», oder «In dem Mass der Gewissheit, was dich umgibt, wird das Vermögen, darin zu sein vermehrt». Oder: «In dem Mass der Gewissheit, wer mit dir tanzt, wird dein Vermögen zu tanzen vermehrt.»

Die schiere Scheinheiligkeit vieler – sehr vieler – Menschen, insbesondere der Re-gierungen, die sie wählen, liegt darin, dass sie vorgeben, lautere Absichten zu haben. Das stimmt aber nicht und die Taten sprechen für sich. Die Unterdrückung der Umwelt, des Tier- und Pflanzenreichs und der Menschen, Kriege, Ausbeutung und Zerstörung: Dies alles spricht eine andere Sprache. Die Systeme, die wir uns aufgebaut haben, sind unzuverlässig. Sie sind korrumpiert von Macht und Geltungssucht. Auf diese Weise geht auf die Kosten aller das, was die wenigen durchsetzen. Ordnung und Chaos sind dabei stets gute Werkzeuge. Es ist also wichtig, dass wir von der Nienetwiler Kultur lernen, dass Ordnung und Chaos eigentlich nur unbedeutende Protagonisten in einem unendlichen Spiel sind und dass wenn wir begreifen, dass wir alle miteinander verbunden sind und ein gemeinsames Spiel haben, einen gemeinsamen Tanz, ein gemeinsames Lied, wir nicht die Spielfiguren auf dem Brett einiger weniger Mächtiger sein müssen. Es geht darum, ein Lied von allem anzustimmen und den Tanz mit allem zu tanzen.
Aber zugegeben, die Skandaj sind gerade einmal dreissigtausend Menschen. Mehr sind nicht übrig geblieben. Sie sind über den halben Erdball verteilt und entziehen sich geschickt seit zehntausend Jahren den Ansinnen und Ansprüchen der Sesshaften. Die Kunst für den Menschen wird also sein, ein gemeinsames Spiel zu finden, das ihm das ermöglicht, was die Skandaj seit Jahrtausenden tun: ein Spiel zu entwickeln, in dem alle und alles eine Rolle spielt.
Nennen wir das Spiel «Utopie Nienetwil» oder, wie es Bruno Latour nennt, «Gaia». Letztlich kommt es darauf an, zu überleben, ohne das Opfer, dass wir uns alles andere unterjochen.
Nicht jedes Spiel macht nur Spass, aber jedes Spiel bringt weiter.