Das Spiel des Sammelns

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Einführung der Herausgeber

Die hier vorliegenden Notizen wurden von Amot Nussquammer jun. schon zu Beginn seines Studiums an der Universität von Chicago in den späten Siebzigerjahren niedergeschrieben. Der Titel «Das Spiel des Sammelns» stammt von Nussquammer selbst. Der Text wurde in seinem Nachlass gefunden und ist hier in revidierter und gekürzter Form auf Deutsch wiedergegeben.
Anlass für die Veröffentlichung des Textes bildet der thematische Schwerpunkt der vorliegenden CRN N° 4, das «Spiel».
Das Thema wurde nicht zufällig gewählt und ebenso wenig zufällig war die Entscheidung, diese Notizen – obwohl sie von Nussquammer selbst nur als «Vorstudien» für eine Publikation gedacht waren – im Rahmen dieser Ausgabe der CRN zu veröffentlichen. Denn das Spiel steht im engen Zusammenhang mit vielem, was wir dank der Forschungen von d’Aciel Arbogast I. und Amot Nussquammer sen. über Nienetwil wissen.
Natürlich verstanden die Nienetwilerinnen und Nienetwiler unter Spiel nicht dasselbe, was heute daunter verstanden wird, sondern, wie man sagen könnte, die Ursprünge des Spielens – also ein Verhalten, das weder Spiel noch Ernst, weder bloss menschliches Tun noch ein rein soziales Gebilde ist.
Es ist sehr wahrscheinlich, dass die Nienetwilerinnen und Nienetwiler den Begriff des Spiels nicht kannten. Sie sprachen eher von «sammeln», wenn sie das beschreiben wollten, was Menschen tun, das heisst, wenn sie das tun, was sie zum Menschen werden lässt.

Was das Sammeln mit Spiel zu tun hat, war die Frage, welche den jungen Nussquammer beschäftigte. Auf eine mögliche Verbindung zwischen dem Sammeln in der Nienetwiler Kultur und dem Spiel – oder wenigstens, was Spielen in seiner ursprünglichen Form bedeutete – ist Nussquammer durch die Lektüre («Wahrheit und Methode. Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik». Tübingen 1960, und «Die Aktualität des Schönen: Kunst als Spiel, Symbol und Fest Stuttgart 1977) des Philosophen Hans-Georg Gadamer gestossen. Gadamer war ein Schüler von Martin Heidegger und publizierte 1960 sein Hauptwerk «Wahrheit und Methode», das eine philosophische Grundlage der Hermeneutik sein sollte. Die Hermeneutik war die Philosophie des historischen und kulturellen Verstehens, das heisst die Philosophie, welche die Frage beantwortet: Wie kommt es, dass wir Texte, Kunstwerke, Artefakte aus der Vergangenheit heute noch «verstehen» können und sogar müssen, damit das Wissen der Vergangenheit nicht vollkommen verschwindet mit der Zeit?

Diese Frage können die Naturwissenschaften nicht beantworten, also braucht es eine Wissenschaft des Verstehens von Kultur im Gegensatz zur Wissenschaft des Erklärens von Naturphänomenen.
Da die Nienetwiler Forschung Archäologie war, ist sie selbst ein solches Verstehen der Vergangenheit, und Nussquammer suchte eine Theorie, welche die Wahrheit der Nienetwilerinnen und Nienetwiler aus der weit zurückliegenden Vergangenheit den Menschen von heute verständlich machen könnte. Diese Theorie fand er im Werk von Gadamer. Interessanterweise war das Spiel für Gadamer ein Schlüssel zum Verständnis des Verstehens. Das Verstehen im Gegensatz zum Erklären (Naturwissenschaften) war die Art und Weise, wie Tradition in der Zeit fortlebte.

Aber, wie Nussquammer meinte, wenn das Spiel so zentral ist für die einzigartige Form der menschlichen Existenz in der Welt – das heisst das Leben in der Zeit und das Weitergeben von Wissen in einer historischen Tradition, also etwas, das kein Tier tun kann –, dann muss das Spiel etwas mit dem Sammeln der Nienetwilerinnen und Nienetwiler zu tun haben. Die hier wiedergegebenen Notizen bezeugen seine Intuition, dass das Sammeln das wesentliche und ursprüngliche Tun des Menschen ist, und versuchen, diese Intuition mithilfe des Spielbegriffs verständlich zu machen. Denn wie Nussquammer von Gadamer lernte: Das Spielen ist nicht etwas, das nur Menschen tun, sondern alle Wesen nehmen auf ihre eigene Art und Weise teil am Spiel des Sammelns.

Die Herausgeber

Das Spiel des Sammelns

Amot Nussquammer sen.
(Notizen für eine geplante Publikation von Amot Nussquammer jun.)

Der moderne Mensch weiss nicht mehr, was es bedeutet, zu spielen. Das Spiel ist verloren gegangen. Es bleibt nichts von dem übrig, was einmal das Spiel ausmachte. Das Leben des modernen Menschen ist in zwei grundlegend verschiedene Bereiche aufgeteilt: Es gibt die Arbeit, und ausserhalb der Arbeit, wenn die Arbeit aufhört, gibt es die sogenannte «Freizeit». Frei ist aber der Mensch in dieser Zeit nicht, denn er muss sich von und für die Arbeit «erholen», er muss sich «ablenken» vom Ernst des Lebens, er muss etwas tun, das nichts bringt, ausser natürlich Entspannung.
Man spricht von Hobbys, vom Spielen, das heisst von allem, was nicht dem Lebensunterhalt dient.
Dass das Spiel aber verloren gegangen ist, zeigt vor allem der Sport. Der Sport ist weitgehend zum Medienspektakel und zur Werbeindustrie geworden. Die Fussballer spielen nicht, sie verdienen Millionen und werden zu Publikumsstars, während die Zuschauenden, wie bei den Gladiatorenkämpfen im alten Rom, ihre Helden hochjubeln und ihr sonst langweiliges und routiniertes Leben für kurze Zeit vergessen.
Noch mehr, das Spiel als Spiel ist zu einem blossen «Spielen» der Menschen verkommen. Es ist eine Aktivität des Menschen, die frei wählen, was sie spielen wollen und die jederzeit aufhören oder etwas anderes machen können. Das Spiel hat seine Verbindlichkeit, seinen tiefen Sinn verloren und bleibt nur noch eine Art «Objekt», das Menschen willkürlich aufnehmen oder nicht.

Wie alles, was der moderne Mensch bestimmt, gibt es keine höhere Verbindlichkeit in der Welt jenseits subjektiver und individueller Willkür.
Dass das Spiel nicht bloss auf menschliche Tätigkeit reduziert werden kann, zeigt das bekannte und überall bestätigte Spielen der Tiere. Auch in unserer Alltagssprache, ist es erhalten geblieben und trägt die vergangene Weisheit noch in sich.
Im alltäglichen Sprachgebrauch wird das Spiel überall in der Welt und in der Natur gefunden. Gadamer schreibt in «Wahrheit und Methode», Seite 99–102: «Wir reden vom Spiel des Lichtes, vom Spiel der Wellen, vom Spiel des Maschinenteiles in einem Kugellager, vom Zusammenspiel der Glieder, vom Spiel der Kräfte, vom Spiel der Mücken, ja sogar vom Wortspiel. […] So reden wir etwa davon, dass etwas dort und dort oder dann und dann ‹spielt›, dass etwas sich abspielt, dass etwas im Spiele ist. […] Für die Sprache ist das eigentliche Subjekt des Spiels offenbar nicht die Subjektivität dessen, der unter anderen Betätigungen auch spielt [d. h. der individuelle Mensch; die Herausgeber), sondern das Spiel selbst.»
Was bedeutet es, dass das Spiel selbst spielt, dass das Spiel und das Spielen etwas ist, das ausserhalb der Menschen liegt und selbst aktiv ist?
Gadamer findet das Wesen des Spiels in einer einzigartigen «Hin-und-her-Bewegung»: «Immer ist da das Hin und Her einer Bewegung gemeint, die an keinem Ziele festgemacht ist, an dem sie endet. Dem entspricht auch die ursprüngliche Bedeutung des Wortes Spiel als Tanz […]. Die Bewegung, die Spiel ist, hat kein Ziel, in dem sie endet, sondern erneuert sich in beständiger Wiederholung. Die Bewegung des Hin und Her ist für die Wesensbestimmung des Spiels offenbar so zentral, dass es gleichgültig ist, wer oder was diese Bewegung ausführt. Die Spiel-Bewegung als solche ist gleichsam ohne Substrat. Es ist das Spiel, das da spielt. Das Spiel ist Vollzug der Bewegung als solcher. […] Alles Spielen ist ein Gespieltwerden.»

Höhlenmalerei in der Höhle Cueva inventada im Valle Soñado (Spanien).
1982 wurden in der Höhle Ausgrabungen gemacht, die diese Malereien auf ein Alter von ca. 23’000 Jahren datieren lassen. In der Nienetwiler Kultur wird der Tanz seit jeher nicht nur als als Sinnbild für das Spiel gesehen – der Tanz ist das Spiel und das Spiel ist ein Tanz.

Das Wesentliche am Spiel ist demnach «das Primat des Spiels gegenüber dem Bewusstsein des Spielenden». Wer spielt, geht auf im Spiel, wird Teil des Spiels und lässt seine alte Seinsweise, seine alltägliche Identität hinter sich. Dies bedeutet: «Das Spiel stellt offenbar eine Ordnung dar, in der sich das Hin und Her der Spielbewegung wie von selbst ergibt. […] Das Ordnungsgefüge des Spiels lässt den Spieler gleichsam in sich aufgehen und nimmt ihm damit die Aufgabe der Initiative ab, die die eigentliche Anstrengung des Daseins ausmacht.»
Aus diesen Gedanken über das Wesen des Spiels geht hervor, dass der Mensch als Naturwesen, das heisst als einer Natur zugehörig, die an sich durch das Spiel bestimmt ist, nicht nur auch spielen kann, gleichsam als ablenkende Nebenbeschäftigung, sondern der Mensch spielt, um das zu sein, was er eigentlich ist. Nur indem der Mensch an dem Spiel, das er nicht selbst kreiert, teilnimmt und darin aufgeht, kann er seine eigene Natur ausleben und erfüllen.
Dies haben die alten Griechen erkannt, indem sie die Sieger der olympischen Spiele als «Helden», das heisst als Menschen, welche das Menschsein exemplarisch darstellten, feierten. Das Spiel ist in diesem Kontext demnach nicht bloss eine Tätigkeit, die man in der Freizeit tut, sondern das, was die Dinge als das, was sie eigentlich sind, erscheinen lässt. Spiel ist somit wesentlich darzustellen, zum Scheinen zu bringen, und im Glanz des Sieges hervortreten zu lassen.
Das Exemplarische, das Bedeutende, das Herausragende zeigt sich erst und ausschliesslich im Spiel, sonst wäre es nur auf das zufällige und willkürliche Handeln eines individuellen Menschen zurückzuführen und hätte nichts Höheres und Bestimmendes in sich. Spiel ist immer ein Darstellen, das heisst ein durch die Regeln der Bewegung und den dafür eigens erschlossenen Spielraum ein Sich-Zeigen von den Dingen – wie in den olympischen Spielen die Stärke der Pferde, die Schnelligkeit der Wagen und die Kraft der Waffen im Wettkampf zum Erscheinen kamen und sich so zeigten, wie sie sind.
Dies führt Gadamer dazu, das Wesen des Spiels in Verbindung mit Kunst zu bringen. Kunst ist die Art und Weise, wie die Menschen spielen, im ursprünglichen Sinne des Wortes. Er zitiert an dieser Stelle den deutschen Philosophen Friedrich Schlegel, der sagte: «Alle heiligen Spiele der Kunst sind nur ferne Nachbildungen von dem unendlichen Spiele der Welt, dem ewig sich selbst bildenden Kunstwerk.»

Wir modernen Menschen leben heute in einer Welt, wo es sich abzeichnet, dass die für den modernen Menschen konstitutive Unterscheidung zwischen Arbeit und Freizeit verschwindet, weil die Arbeit den Robotern überlassen wird und der Mensch nur noch Freizeit haben wird. Doch wenn es keine Arbeit mehr gibt, wird es keine Freizeit geben können, denn Freizeit ist ja nur als Gegenpol zur Arbeit sinnvoll. Was wird aus den Menschen?
Die Antwort liegt in der Kunst. Nur, Kunst kann nicht mehr das bedeuten, was in der modernen Welt als Kunst betrachtet und gehandelt wird. Auch Kunst wird sich ändern müssen, wenn sie zur Lebensweise des Menschen wird. Was für eine Kunst wird den Menschen der Zukunft beschäftigen?
Kunst kann nicht mehr das Schaffen von angeblich originellen, überraschenden und eigenartigen Werken sein. Es wird keinen Kunstmarkt und keine Kunstszene mehr geben. Kunst wird zum Spiel, wie sie es ursprünglich war. Sie ist das Spiel – das Spiel im wesentlichen und ursprünglichen Sinne des Wortes –, das aus der Vergessenheit aufgetaucht ist und in der Zukunft wieder in Erscheinung tritt.
Für die Nienetwilerinnen und Nienetwiler wäre dies selbstverständlich, denn für sie war das menschliche Handeln immer ein Spiel. Doch sie sprechen natürlich nicht vom Spiel, da dieser Begriff erst viel später entstand. Aber das, was Spiel ursprünglich bedeutet, ist aus der Nienetwiler Tradition des Sammelns entstanden und trägt diese Erfahrung zumeist unbeachtet und missverstanden in die heutige Welt hinein.

Wie das Spiel ist auch das Sammeln keine bloss menschliche Tätigkeit – alle Wesen nehmen am Spiel des Sammelns teil. Wer Holz oder einen Stein in die Hand nimmt und daraus eine Axt macht oder ein Haus baut, achtet nicht bloss auf die eigenen Intentionen oder Ziele, sondern auf das, was der Stein oder das Holz «sagt», was es tun kann. Wenn Stein und Holz nicht «mitspielen», wird nichts daraus.
Stein oder Holz oder was immer die Menschen in der Welt «bearbeiten», wird zu dem, was sie jeweils durch ihre Verbindungen miteinander sind, durch ihr eigenes Mitspielen in einer einzigartigen Hin-und-her-Bewegung zwischen Anwenden, Ausprobieren, Lernen und Zusammenstellen – das heisst durch das Sammeln – zu etwas gemacht, das vorher nicht da war.
Dass das Spiel und das Sammeln in dieser Art und Weise «kreativ» sind, bezeugt die Verbindung zwischen Spiel und Kunst: Die Kunst ist das ursprüngliche Spielen und das Spiel ist das Sammeln.
Im Sammeln findet der Mensch zu sich und erscheint in der Welt als Sammler. Dies ist, wie die Nienetwilerinnen und Nienetwiler das Menschsein verstanden und gelebt haben.
Durch die Jahrtausende wurde diese Lebensweise mehr und mehr verdeckt und vergessen, als die Menschen ihr Handeln erst von den Göttern her bestimmen liessen und schliesslich in der Neuzeit von einer «Selbstbestimmung» des freien und autonomen Individuums ausgehen.

Wird der moderne Mensch zurück zu dem finden, was er als Mensch einmal war? Dies hängt davon ab, ob er das Spielen wieder lernen kann.