The Alaju Settlement – Teil 2

Kurze Zusammenfassung der bisherigen Ereignisse

Miribal Ciséan kam als junges Mädchen nach Paris und arbeitete während des Ersten Weltkriegs in einem Sterbehospitz. Sie lernte dort Ophelia Catilleaux, die Mutter eines sterbenden Soldaten, kennen. Miribal bekam von ihr das Angebot, bei ihr im Scheherazade zu arbeiten. Dieses Etablissement war in ganz Paris bekannt. Es gab dort ein Restaurant und Konzerte und allerlei Vorführungen. Kurz, es war einer jener Vergnügungs- und Freudenhäuser, wie es sie in Paris zu Dutzenden gab. Allerdings erfreute sich das Scheherazade einer recht illustren und teils erlauchten Gesellschaft. Künstler wie Picasso gingen ein und aus und auch Wissenschaftler und Politiker kamen. Frauen dagegen waren eher selten und meist durch all die «Gesellschafterinnen» vertreten. Miribal war jedoch keine von ihnen, sondern wurde die rechte Hand Ophelias.

Im Scheherazade lernte Miribal d’Aciel Arbogast kennen, einen Sonderling, absolut talentierter Unterhalter und ebenso absolut untalentierter Künstler. Er war immerzu auf Forschungsreisen, denn er war ein Nienetwiler und auf der Suche nach Beweisen seiner Kultur. Von ihm erlernte Miribal auch die Nienetwiler Sprache Alaju und wurde darüber hinaus von ihm in mehr als einen Schlamassel gezogen. Der grösste davon war wohl, dass er sie mit einem Engländer zusammenbrachte, der sie bat, bezüglich der immer stärker werdenden Nationalsozialisten Augen und Ohren offenzuhalten. So wurde sie nicht nur gelehrige Schülerin des Arbogast, sondern auch Spionin.

 

==Über Götter, Geister und Dämonen==

Als Mädchen war ich religiös erzogen worden, doch spätestens im Hospiz, als ich all die sterbenden Soldaten um mich herum sah, verlor ich alles, was man als religiös bezeichnen könnte. Später, im Scheherazade, in den Gesprächen mit all den Wissenschaftlern (und wenigen Wissenschaftlerinnen), kam ich für mich zur Überzeugung, dass es keinen Gott geben konnte. Was für eine Bestie müsste das sein, seine eigene Schöpfung derart zu behandeln? Ganz abgesehen davon, dass mir schlicht die Beweise für eine schöpferische Kraft hinter alledem, was auf der Erde war, fehlte.

Doch wie so viele Menschen war auch ich nicht «gefeit» gegen ein gewisses Leeregefühl in mir. Lediglich wenn ich draussen in der Natur war oder nachts zu den Sternen hinaufblickte, erfüllte mich etwas, das dieses Gefühl zu dämmen vermochte.

Ich spürte, dass ich diese Leere nicht mit Wissen aus Büchern würde füllen können und dort auch keine Antworten finden würde wie bei anderen Themen. Es lag also nahe, dass ich einen fragte, der mir vielleicht einige Antworten geben könnte.

Aber als ich in Aciels Atelier an die Türe klopfte, kam ich mir albern vor. Was sollte ich ihn fragen?

Er öffnete die Tür und sah mich schmunzelnd an: «Oh, ich sehe schon, die Prinzessin hat wieder Fragen! Komm rein.» Offenbar hatte er die Mansarde etwas aufgeräumt und es sah um ein kleines bisschen gepflegter aus als beim letzten Mal. «Wie kann ich dir weiterhelfen, Miribal?», fragte er, nachdem er erst Kaffee gekocht und sich dann mit mir an den Tisch gesetzt hatte.

«Glaubt ihr?», fragte ich. «Ich meine die Nienetwiler, habt ihr einen Glauben? An Gott oder Götter oder sowas?»

Er lachte laut auf und schüttelte den Kopf, fuhr sich mit den Händen übers Gesicht und schnaufte laut ein und aus. «Nicht so, wie du das von anderen kennst. Nein, wir haben keinen Gott und auch keine Götter, wenn du irgendwelche in Tuniken gekleidete Griechen, Römer oder andere meinst. Auch keine Elefanten, achtarmige Göttinnen oder kinderfressende Monster. Unser Denken verläuft anders. Wir fühlen uns eins mit allem, egal ob Mensch, Tier, Pflanze, Stein oder Wasser. Sie alle sind nach unserer Weltsicht uns gleichgestellte Wesen. Selbst das, was du Ambiente nennen würdest, sind Wesen. Sehr flüchtige zwar, aber Wesen, die wir als solche wahrnehmen und behandeln. Sie bekommen manchmal Namen von uns, damit wir uns an sie erinnern können.

Aber wir beten nicht und wir kasteien uns nicht wie die Katholiken, Hindus oder Buddhisten. Wir haben auch keinen grossen Jehowa und es liegt nicht in unserem Denken, an einen Himmel, ein Nirwana oder Ähnliches zu glauben. Doch wieso fragst du, Miribal?» «Ich weiss nicht, irgendwie habe ich in letzter Zeit oft daran gedacht. Wenn ich im Wald bin und einem Vogel zurufe ‹schönes Lied!› oder einem Baum bewundernd an die Borke klopfe und ihn für seine Stattlichkeit lobe, dann spüre ich etwas in mir, das ich nicht benennen kann. Ich fühle mich verbunden, weiss aber nicht wie, und komme mir dann albern vor, wenn ich daran denke, dass mich jemand hätte sehen können. Ich glaube schon seit Jahren nicht mehr an einen Gott und verachte die Kirche für ihr scheinheiliges Getue und den Missbrauch ihrer Macht. Aber ich spüre, dass mir irgendetwas fehlt, weiss aber nicht, was. Diese Verbundenheit, die du genannt hast: Ist es möglich, dass ich das auch spüre, nicht so stark, aber dennoch? Und spricht die Welt, zu der ihr sprecht, auch zu euch?»

«Du stellst Fragen! Eure Hoheit Mme Scheherazade scheint dir zu viel Freizeit zu geben! Nun gut, Spass beiseite. Ich weiss, was du meinst, und du bist nicht alleine damit. Vielen Menschen geht es so. Manche versuchen diese Leere mit den Lehren einer Religion zu füllen, andere suchen im Okkultismus nach Erfüllung und wieder andere suchen im alten Glauben ihrer Vorfahren, der Kelten, Germanen, Römer, Ägypter oder was weiss ich noch alles. Gar die Indianer Amerikas müssen dafür herhalten. Doch weil all diese Glaubenssysteme, wenn man das so nennen muss, hauptsächlich mündlich überliefert wurden, gibt es kein Buch, in dem man es einfach nachblättern kann, und die, welche es gibt, sind Schund und Scharlatanerie! Das, was du fühlst, wenn du einen Baum ansprichst oder zu Sonne sagst, ‹nun ist mal aber genug›, wenn sie dich blendet, solches eben kommt dem, was wir fühlen, sehr nahe. Auch wir sprechen so mit der Natur. Aber wir sprechen auch so mit den Momenten. Mit den Materialien, die wir bearbeiten. Mit den Dingen, die wir nutzen, wie ein Bett zum Beispiel oder eine Tasse. Sie sind Wesen für uns, die wir als solche respektieren.

Oder wenn ein Schreiner an der Arbeit ist und wenn alles passt und stimmt, die Arbeit gut von den Händen geht, wenn er zum Holz spricht und das Holz zu ihm, das Holz ihm die Hand mit dem Hobel führt und er spürt, dass er und das Brett gerade jetzt eins sind, dann verspürt er etwas, das du als spirituell bezeichnen kannst. Viele sind ja im Glauben, dass wenn wir uns nächtens im Wald versammeln und einer die Trommel schlägt, dass dies wie ein Gebet sei oder eine Huldigung an irgendeinen Gott. Aber dem ist ganz und gar nicht so. Einer spielt die Trommel, langsam erst, denn er muss warten, bis sie zu ihm spricht. Irgendwann tut sie das und sie führen ein Zwiegespräch: er mit seinem Leib, sie mit ihrem Klang, der Rauheit, Feinheit, Härte oder Weichheit ihres Fells. Es ist ein besonderer Moment für ihn, denn er spricht mit einem Wesen, das ein ganz und gar anderes Leben führt als er. Die, die dabei sind, spüren das ‹skandi›, das Licht und die Schaffenskraft in dem Gespräch, sie werden davon durchdrungen, hören zu und lernen. Die Trommel wiederum spürt den Tanz, die Freude, sie spricht nun mit allen und alle sprechen mit ihr und allen anderen. Dann hören die Luft und das Licht, der Boden und der Wald das Gespräch, sie beteiligen sich und so geht es hin und her und alle lernen von allen. Lange nachdem schon alle wieder zu Bett gegangen sind, sich hingelegt haben und still sind, hören sie das Gespräch noch immer nachhallen. Es ist Teil von ihnen geworden und sie können es immer und immer wieder aufnehmen und von Neuem davon lernen. Das, meine liebe Miribal, das ist unsere Art. Aber es geht auch ohne Trommel, es geht beim Kochen so, beim Malen, Weben oder Kartoffelnpflanzen. Immerzu singen und sprechen wir zu den Dingen, um sie teilhaben zu lassen und teilhaben zu dürfen. Manche Völker entwickeln Riten, um diese Momente herbeizuführen, um ‹singen› zu können. Wir denken, dass ein gegenwärtiger Moment nur ein Konstrukt ist, er existiert nicht wirklich. Ein Wimpernschlag, und schon ist der nächste da. Einer, der vorher noch Zukunft war, und die Gegenwart ist schon Vergangenheit. Was sollte es da bringen, Momente wieder aufleben zu lassen? Wir können uns daran erinnern, von ihnen lernen, sie weitertragen, aber wir können sie nicht wiederholen. Und deshalb haben wir auch keine Riten. Wir leben in dem, was wir ‹Aiu› nennen. Ewigkeit, oder etwas sich andauernd Veränderndes, nie etwas Festes, nie etwas, worauf man sich verlassen kann. Es muss befragt werden, und wer Antworten will, muss respektvoll fragen, damit er diese bekommt. Also sprechen wir mit den Menschen und den Nichtmenschen respektvoll, ganz so, wie wir wollen, dass man mit uns spricht. Verstehst du das, Prinzessin?»

Noch bevor ich ihm antwortete, langte er über den Tisch zu einer Flasche Rotwein, goss sich ein Wasserglas davon ein und trank es in einem Zug leer.

Mir dröhnte der Kopf von all den Gedanken. Er hatte so schnell und fahrig geredet, so impulsiv, dass ich fast mehr auf das Wie als auf das Was geachtet hatte. Also liess ich mir einige Sekunden Zeit, um nachzudenken, bevor ich antwortete: «Ich weiss nicht, vielleicht habe ich es verstanden. Es scheint mir so einfach zu sein!» «Es ist einfach.» «Aber wie kann man sicher sein, dass man richtig mit den Dingen redet? Wie kann man sicher sein, sie richtig zu verstehen?»

«Wieso richtig? Es gibt kein richtig oder falsch beim Verstehen. Es geht hier nicht um den Beweis einer mathematischen Gleichung. Es geht um Respekt, ums ‹gattern1 und um mit ihnen ‹inel2 zu sein. Es geht um das ‹Skanden›3, nicht darum, recht zu behalten. Richtig oder falsch, was ist das schon? Es sind Betrachtungen verschiedener Augen. Für uns ist es nur wichtig, dass wir wenigstens versuchen, alles zum Besten zu verbinden.»

Als ich wieder im Scheherazade war, bat ich Ophelia darum, mich noch eine Stunde hinlegen zu dürfen. Ich schlief sofort ein und träumte die allerwildesten Dinge. Drei Stunden später kam ich von meinem Zimmer runter und es war schon acht oder neun Uhr und überall waren die Salons voller Menschen. Als Ophelia mich sah, schüttelte sie den Kopf und lächelte. Ich konnte das «tztz», das sie dachte, förmlich hören. Als ich in den Blauen Salon sah, sass dort Aciel mit dem halben Vorstand der Kommunistischen Partei, einigen Literaten und Künstlern und einem halben Dutzend Damen und sang Seemannslieder. Er winkte mir zu, doch ich hatte genug Arbogast gehabt für diesen Tag.

1 gattern = sammeln

2 inel = sich an einem Ort befinden

3 Skanden = etwas erschaffen

 

 

==Ein kleines Abenteuer==

Im Frühsommer 1929 erlaubte mir Ophelia, mit Arbogast, dem Schweizer Archäologen Dr. Mathis, dem französischen Archäologen Dr. Lautrac und dessen als Anthropologin tätigen Frau Caroll ein kleines Abenteuer zu unternehmen. In Besançon hatte ein Trödel- und Antikenhändler Aciel ein Objekt verkauft, das diesen in helle Aufregung versetzte. Er war einen Monat lang unterwegs, bis er den Bauern fand, der das Objekt beim Pflügen gefunden hatte. Der hatte gedacht, dass es von den Galliern stamme, was in der Gegend ab und zu vorkam, und wollte es an den Meistbietenden verkaufen. Stattdessen hatte er es dann einem Bekannten in Kommission gegeben und dieser hatte es irgendwann dem Händler verkauft.

Bei dem Objekt handelt es sich um einen Stein, der auf einer Seite eine Hand zeigt, auf der anderen irgendwelche Kreise. Weil er so schwer war, hatte Aciel ihn in Besançon einlagern lassen. Und nun waren wir unterwegs, um den Ort zu besuchen, wo der Stein gefunden worden war. Der befand sich westlich von Pontarlier, auf einer kleinen Hochebene bei Les Alliés, direkt an der Schweizer Grenze, wo wir nach unserer Ankunft in einer kleinen Herberge unsere Zimmer bezogen.

Am nächsten Tag machten wir uns alle auf, um den Bauern zu suchen. Ich kann mich nicht mehr genau erinnern, aber ich glaube, er hiess Cordier.

Wir fanden den Mann bei seinem Feld, das inzwischen bestellt war und auf dem irgendein Korn wuchs.

Mr. Lautrac streckte ihm etwas Geld hin, worauf der Bauer uns zum Feld führte. «Da, am oberen Rand des Felds, gleich unterhalb vom Wald, habe ich den Stein gefunden», sagte er und erlaubte, dass wir uns im Wald umsahen. Wir machten uns daran, den Hügel zu besteigen. Er war mit Eichen, Ahornbäumen und Buchen bewachsen. Oben angekommen, fiel er in eine Senke von etwa vierhundert Meter Länge und hundertfünfzig Meter Breite ab. Meine Begleiter und Mme Lautrac waren ganz aus dem Häuschen vor Aufregung. «Wir teilen uns auf», meinte Herr Lautrac, und so zogen wir gemeinsam in etwa zehn Metern Abstand durch den Wald. Aciel und ich blieben zusammen, da ich selber ja nicht einen Schimmer gehabt hätte, wonach ich eigentlich Ausschau halten sollte. Wir waren noch nicht an der tiefsten Stelle der Senke angekommen, da rief Herr Mathis uns zu sich und zeigte auf eine kleine Erhebung. «Was könnte das sein, ein Hünengrab aus der Bronzezeit oder ein späterer Eingriff?»

Aciel ging in die Knie, dass ich schon dachte, er hätte nun doch mit dem Beten angefangen. Doch dann begann er zu summen. Auf allen Vieren kroch er nun über den Boden, wischte mit den Händen unter dem Laub von einer zur anderen Seite und schien uns völlig vergessen zu haben. «Was zum Henker tun Sie da, Arbogast!», rief Lautrac aus, doch Aciel ignorierte ihn. Nachdem wir ihm um die kleine Erhebung und etwas weiter davon entfernt gefolgt waren, stand er plötzlich auf. Er war über und über mit Blättern, Dreck und Moos verdreckt und sah aus wie ein verrückt gewordener Waldschrat. «Miribal, Prinzessin der Sprachen. Sei so gut und komm einmal her zu mir.» Das tat ich und blieb vor ihm stehen. «Ich möchte, dass du mit mir singst. Machst du das?» «Ich kann nicht singen!» «Doch, doch, das kannst du, hilf mir zu singen. Wir werden ein kleines Liedchen summen, das ich noch von früher kenne. Und ihr», rief er zum Rest der Gruppe, «ihr dürft gerne mitsingen!» «Arbogast, Sie verrückter Hund, ich bin nicht zum Singen hier», rief Mathis aus. «Ach komm schon, Karl, jeder kann singen, und die zehn Minuten wirst du wohl erübrigen können.» Also stellten wir uns alle oben auf die kleine Erhebung und Aciel summte sein Lied, das wir, so gut es ging, mitsummten. Es dauerte nicht lange und die einfache Melodie kam uns so einfach von der Kehle, als hätten wir sie schon unser Leben lang gekannt. Wir sangen und sahen den Wald an und den Boden und uns gegenseitig und dann wieder den Wald. «Ich werd’ verrückt, Arbogast. Da ist es!» «Ja, da ist es. Wunderbar, nicht wahr?» Er lachte und sprang mit federleichten Schritten über den Waldboden zu einer hinter den Bäumen kaum noch zu sehenden Stelle. «Manchmal ist singen einfach das Beste», schmunzelte er mich an, als ich bei ihm eintraf. Trotz seiner achtundfünfzig Jahre sah er gerade aus wie achtzehn.

Er nahm seinen Rucksack von der Schulter und band den kleinen Schanzspaten los, den er daran festgebunden hatte. Vorsichtig fing er an zu graben, doch er hatte kaum das Laub weggefegt und die oberste Erddecke angehoben, als ein grosser Stein zum Vorschein kam. Er warf den Spaten beiseite und reinigte ihn mit den Händen weiter, bis auf seiner Oberfläche fünf kleine Schalen von vielleicht sechs Zentimeter Durchmesser und zwei Zentimeter Tiefe auftauchten. Unterhalb der halbkreisförmig angelegten Schalen war ein Kreis mit einem Punkt in der Mitte zu sehen. «Ein Skandi-Stein!», rief er fröhlich aus und tanzte auf dem Laubboden umher wie Rumpelstilzchen. «Was ist das?», fragte ich. «Das, Miribal, das ist ein ‹ Skandi-Stein t›. Er zeigt mir, dass hier einst ein Dorf der Nienetwiler gestanden haben muss. Leider würden nur aufwendige Grabungen uns zeigen, wann die Siedlung hier bestanden hat und wie viele Menschen hier gelebt haben. In unserer Sprache bedeutet Skandi-Stein etwa so viel wie Ortsstein. Er war der Mittelpunkt eines jeden Dorfes.»

Die drei anderen sahen einander vielsagend an und nickten. «Also stimmt es doch, das mit den Nienetwilern», sagten Lautrac und Mathis fast zur selben Zeit. «Ihr habt daran gezweifelt?» «Hätten Sie nicht?», fragte Mathis. Aciel lachte und schob die Erdstücke und Laub wieder über den Stein. «Niemals hätte ich an mir gezweifelt, niemals!», lachte er und schnallte seinen Schanzspaten wieder an den Rucksack.

«Irgendwann, wenn wir das Geld beisammenhaben und die Regierung einwilligt, werden wir hier graben. Es wird ein Meilenstein in der Archäologiegeschichte werden, das verspreche ich euch!» Und ohne ein weiteres Wort zu sagen, drehte er sich um und trat den Rückweg an.

Leider fügten sich die Dinge nicht so, wie Aciel es wollte. Die Regierung verweigerte ihm die Grabung und selbst seine Freunde konnten nichts ausrichten. Dann kam der Zweite Weltkrieg und danach war es noch schwieriger, eine Genehmigung zu bekommen. Der Ort liegt heute noch unerforscht im Wald bei Les Alliés.

Aciel verriet mir jedoch, dass er in den Jahren danach ab und zu heimlich kleine Grabungen durchgeführt hat. Viel habe er nicht tun können, da die Siedlung selber gute zwei Meter unter dem Boden liege, räumte er ein. Aber er fand dort, wo sie im Krieg Wege durch den Wald angelegt hatten, verschiedene kleine Gegenstände aus der Siedlung.

Den grossen Stein, den er in Besançon gekauft und eingelagert hatte, holte er sich einige Wochen später ab und liess ihn irgendwo in die Schweiz schicken. Ich habe ihn selber nie gesehen.

(Der Stein wird heute im Museum Nienetwil eingelagert [Anm. der Redaktion].)

 

==Die Jahre==

Ich will nicht jede Belanglosigkeit und jeden Tagebucheintrag veröffentlichen. Das Buch soll auf etwas hinführen – und ich merke gerade, auf was – nämlich auf das Thema Nienetwil. Nienetwil, das mich mein ganzes Leben lang beschäftigt hat. Erst durch d’Aciel Arbogast, später durch meinen Mann Amot und noch später durch unseren Sohn Amot jun.

Und so geht es denn in diesem Buch weniger um mich als eher darum, wie sich um mich herum die Nienetwiler Forschung verdichtet hat – ja das ganze Thema überall plötzlich auftauchte. Archäologen tuschelten darüber und Anthropologen, Okkultisten und Ethnologen, Religionsforscher und gar Psychologen und Künstler. Meine Befassung mit Sprachen profitierte von Nienetwil, oder jedenfalls von dem, was mir Aciel darüber erzählte, ebenso wie einige Künstler, nicht zuletzt Salvador Dalì, auch wenn er das immer abstreiten würde. Aber wie gesagt, ich muss hier nicht alles ausbreiten. Belassen wir es dabei, dass ich die nächsten vier Jahre zusammenfasse.

Aciel war wieder auf Reisen gegangen und sein Atelier lag verlassen. Das Scheherazade florierte. Nicht mehr wie auch schon, denn im Herbst 1929 krachte ein Kartenhaus voller Träume über der Welt zusammen. In den USA «Schwarzer Donnerstag» genannt, war der 29. Oktober der Beginn der Weltwirtschaftskrise. In Frankreich riefen wir «Merde» und «Mon Dieu», machten uns auf das Schlimmste gefasst, kauften uns Rotwein, Trockenwurst und ein Baguette, feierten und machten einfach weiter so gut es ging.

Doch auch wenn sich danach das Publikum im Scheherazade zu ändern begann, es war immer noch die einzige Welt, die ich kannte und mir vorstellen konnte.

1932 ging es wieder aufwärts. Ich war gerade dreissig Jahre alt geworden. Es gab keinen Mann an meiner Seite und meine Familie waren Ophelia, Aciel und ein gutes Dutzend Stammgäste sowie einige «Damen», mit denen ich mich gut verstand. Obwohl, oder vielleicht gerade weil das Thema Sex im Scheherazade allgegenwärtig war, verspürte ich kaum Verlangen danach. Das Leben war schon aufregend genug und die Männer kamen und gingen – mit Ausnahme von Aciel, den ich zwar nicht begehrte, aber ganz sicher liebte.

In Italien regierte der Faschist Mussolini, in Deutschland versuchte ein Nationalsozialist namens Hitler an die Macht zu kommen, und auch in Frankreich versuchten die Faschisten, gestärkt durch die Wirtschaftskrise, an Macht zu gewinnen. Ophelia wurde auf deren «Schwarze Liste» gesetzt, weil bei uns selbstverständlich auch Juden verkehrten.

Aciel war seit zwei Jahren nicht mehr in Paris gewesen, schickte mir aber ab und zu Karten oder einen kleinen Brief. Einen sogar in der Sprache der Nienetwiler. Ich kann ihn leider nicht mehr finden, sonst würde ich ihn hier abdrucken lassen. Ich war sehr traurig, dass er nicht an meine Geburtstagsparty kam, denn er hat uns allen gefehlt. Trotz alledem war es ein Fest, wie es selbst im Scheherazade nur selten gefeiert wird, und es wurde nur durch das Fest 1920 übertroffen, als Ophelia sechzig wurde.

Als wir an Silvester die Korken knallen liessen, dachten wir alle zurück und voraus und waren voller Hoffnung, dass die Welt nun besser würde.

Leider wurde sie das nicht. Keine zehn Tage nach meinem einunddreissigsten Geburtstag ergriff Hitler in Deutschland die Macht. Weitere zehn Tage später stand Aciel wieder vor mir. Er lächelte mich müde an und sagte: «Miribal, ich gratuliere dir zum Geburtstag! Es tut mir leid, dass ich nicht mehr Zeit habe, aber es ist jemand bei mir, der mit dir sprechen will.» Er winkte nach hinten zu einem älteren Herrn, der mir vage bekannt vorkam. «Erinnerst du dich an Mr. Keith?»

Der Engländer kam etwas schüchtern auf mich zu, trug in der einen Hand eine schwarze Ledermappe und in der anderen Hand einen etwas zerzausten Blumenstrauss. «Mademoiselle Ciséan, Mr. Arbogast hat mir mitgeteilt, dass Sie Geburtstag hätten.» Sagte es und streckte mir die Blumen entgegen. Da sein Französisch nicht wirklich gekonnt klang, erwiderte ich auf Englisch: «Herzlichen Dank, Mr. Keith, ich hoffe, Ihre Sanskrit-Studien machen Fortschritte?» «Oh, danke, ja. Obwohl ich wegen meines Amtes als Professor in den Rechtswissenschaften kaum dazu komme. Gibt es hier einen Ort, an dem wir ungestört sprechen können?» So nervös, wie er sich umsah, dachte ich, es sei das Beste, wenn wir in den Salon Royale, also das abgeschiedene Zimmer im Keller, gingen.

Er kam ohne Umschweife zum Thema: «Sie wissen vielleicht, dass es in Europa langsam wieder Wirrungen gibt. Wir machen uns Sorgen wegen Hitler, Mussolini und Franco. Nicht unbedingt hier, aber die Kolonien könnten davon betroffen sein, und das macht uns Sorge, denn es könnte Einfluss auf den Welthandel haben. Sollte sich Deutschland unter Hitler tatsächlich entschliessen, sich auf einen neuen Krieg vorzubereiten, dann möchten wir gewappnet sein. Wir sind deshalb dabei, in allen Städten Europas ein Netz von Informanten aufzubauen. Wir wollten daher anfragen, ob Sie bereit wären, für uns, nun ja, die Ohren offenzuhalten. Da Mr. Arbogast uns beim letzten Mal von Ihren Sprachkenntnissen berichtet hatte, wären Sie geradezu prädestiniert, alle möglichen Informationen zusammenzutragen und an uns weiterzugeben.»

«Eine Spionin also? Arbogast!»

«Es tut mir leid, Miribal, aber er hat recht. Du verstehst jede Sprache, die im Scheherazade gesprochen wird, und das sind nun wirklich nicht wenige. Hier gehen Diplomaten, Wirtschaftsleute und andere ein und aus. Und sie kennen dich alle als einen offenen und grosszügigen Menschen.»

«Aber die Nationalsozialisten und die Nationalisten von Valois kommen nicht mehr her. Sie haben uns gar auf die schwarze Liste gesetzt.»

«Ach, das macht nichts, sobald sie sich mächtig genug fühlen, werden sie wieder herkommen, und selbst wenn nicht – sie werden mit anderen reden und die werden hier wieder mit anderen reden.»

«Aber ist das nicht gefährlich?»

«Im Moment noch nicht, Mademoiselle Ciséan. Aber wir analysieren die Situation, und wenn sie sich ändern sollte, dürfen Sie gerne wieder aussteigen.»

Nun war ich also auch noch Spionin geworden. Na sowas! habe ich mir damals gesagt und tat, was ich immer tue: eins ums andere nehmen und tun, was getan werden muss. Wie eine waschechte Französin halt.

 

=Ursprung der Sprache=

Aciel war nun öfters in Paris – da die Schweiz ihm im Moment «zu abgeschottet» sei, um sich wissenschaftlich auszutauschen, und der Wein hier besser sei, wie er sagte. Ich selber arbeitete weiter im Scheherazade als Ophelias Stellvertreterin. Sie war inzwischen dreiundsiebzig und oft müde. Auch hatte sie nicht mehr so viel Freude am Rummel und nahm sich immer öfter Zeit für sich. Inzwischen nannten mich fast alle «Dauphine Scheherazade».

Und ja, ich arbeitete tatsächlich als Informantin für den Britischen Geheimdienst. Wegen der momentanen politischen Lage bei der französischen Regierung wollten die Briten nicht mit denen zusammenzuarbeiten, da, wie Keith meinte, sie dann «ihre Leute» gefährden würden.

Allerdings gab es kaum etwas zu tun für mich. Das Publikum hatte sich so stark verändert, dass von dem alten nur noch wenige da waren. Da aber sowieso die meisten von ihnen Linke gewesen waren, hätte da auch nicht mehr rausgeschaut.

Aciel war also wieder in Paris. Er schrieb nun oft seinem Freund Nussquammer, einem Deutschen, den er schon viele Jahre kannte und mit dem zusammen er an der Nienetwiler Kultur forschte. Auch mit Keith pflegte er regen Austausch. Dieser kam alle paar Wochen her und sie arbeiteten an einem gemeinsamen Projekt. Eines Tages kam Aciel zu mir und fragte mich, ob ich Interesse hätte, ihm und Keith bei ihrem Projekt zu helfen. Meine Sprachkenntnisse und mein Einfühlungsvermögen würden ihnen gute Dienste leisten können. Ich fühlte mich natürlich geschmeichelt und wir drei trafen uns bei Aciel im Atelier.

Die Unordnung war wieder zurückgekehrt und hatte nun ganz und gar von dem Raum Besitz ergriffen. Überall lagen Papiere und Bücher und Notizzettel. «Oh du meine Güte!», rief ich aus, als ich reinkam und das Chaos sah. «Hast du hier Affen?» Aciel lachte und meinte, das nicht, auch wenn das ganz sicher keine schlechte Idee wäre. Wir kämpften uns wie die Soldaten der Légion étrangère durch den Dschungel bis zu seinem Esstisch vor, wo Arbogast fast zum Verzweifeln stoisch die Tischplatte freiräumte.

«Wir arbeiten daran, herauszufinden, was von der Nienetwiler Sprache, dem Alaju, in andere Sprachen übergegangen ist und wo das Umgekehrte der Fall ist», begann Keith zu erklären. «Da ich mich seit drei Jahrzehnten mit den Veden und dem Sanskrit beschäftige, bat mich Aciel, dass ich diesen Teil übernehmen soll.»

«Und wie kann ich Ihnen da helfen?» «Wir haben hier die Standardwerke des Sanskrit», sagte Keith, «zu denen ich, wie ich in aller Bescheidenheit sagen darf, teilweise auch meinen Beitrag geleistet habe. Wir haben zudem alle Wörter, die aus dem indogermanischen Sprachstamm bekannt sind, aufgelistet. Zudem haben wir nicht weniger als sechzig Bücher zu anderen Sprachen der Welt zusammengetragen. Es wäre nun an Ihnen, die Sie so viele andere Sprachen kennen, nach Ähnlichkeiten zu suchen. Man kann aber natürlich nicht über eine reine Ähnlichkeit eines Wortes Ab- oder Herleitungen machen, sondern muss die einzelnen Wörter nach ihrem Wortstamm untersuchen, nach Verwandtschaften und so weiter. Wir haben auch Tabellen mit den Lautverschiebungen in den verschiedenen Sprachen angefertigt, soweit wir das in Erfahrung bringen konnten.»

«Wenn das getan ist», warf Aciel ein, «dann werde ich die fertige Liste durchgehen und nach Übereinstimmungen mit dem Alaju suchen. Und wer weiss, vielleicht wirst du mir auch dabei helfen können.» Er lächelte mich unschuldig an, aber ich wusste natürlich ganz genau, dass das nur das Lockmittel war. Er hatte mich natürlich in der Hand, aber so einfach wollte ich es ihm auch wieder nicht machen. «In Ordnung, ich helfe euch, so gut ich das neben meiner Arbeit im Scheherazade kann, aber – und darauf bestehe ich – ich darf mir so viele Notizen machen, wie ich will, und wenn ich hier arbeiten muss, müssen Sie dafür etwas Ordnung schaffen!»

Da Keith noch am selben Tag abreisen musste, trafen Aciel und ich uns am nächsten Tag wieder bei ihm. Die Regierung hatte dem Scheherazade ein Verbot auferlegt, das uns den Betrieb am Sonntag, mit Ausnahme des Cafés, verbot. Also hatte ich quasi frei und konnte helfen.

Das Atelier war fast aufgeräumt. An einer Wand stapelten sich nun auf die Seite gelegte Kisten, in denen die Bücher standen, und an einer anderen Wand hat er dasselbe mit seinen Papieren gemacht. Es musste die ganze Nacht gedauert haben, hier Ordnung zu schaffen. «Hier, Miribal, ich habe dir sogar einen eigenen Schreibtisch besorgt.»

Schreibtisch war ein etwas grosses Wort für dieses von Holzwürmern zerfressene Relikt aus dem letzten Jahrhundert. Damals hat es wohl einer nicht allzu gut betuchten Dame als Schminktisch gedient. Ich nahm davor Platz, Aciel legte mir einen Stapel Papiere vor und ich tauchte ein in eine der ältesten bekannten Sprachen der Welt.

Mein erster Arbeitstag dauerte vierzehn Stunden, und als ich fertig war, hatte ich gerade einmal um die dreihundert Wörter beisammen. Ich war müde und enttäuscht und vor allem frustriert, denn ich hatte mir kaum Notizen machen können.

Als ich später im Bett lag, dachte ich über all die Wörter nach und darüber, was mir Aciel über das Alaju erzählt hatte. Wenn diese Sprache wirklich, wie er glaubte, älter war als die indogermanischen Sprachen, dann wäre meine Arbeit völlig nutzlos, denn es fände sich dann ja in jeder Sprache auch ein Teil des Alaju.

War es aber so, dass das Alaju einfach eine weitere Sprache war, dann würde sich meine Aufgabe darauf beschränken, im Alaju Wörter aus anderen Sprachen zu finden. Das konnte ich aber nicht, da ich nicht Alaju sprach.

Mir schien da irgendwie der Wurm drin zu sein und ich wollte Aciel darauf ansprechen.

Ich kam erst vier Tage später dazu.

«Ja, da hast du natürlich recht, Miribal. Da müsstest du doch tatsächlich Alaju sprechen lernen. Nun gut, fangen wir an!»

Er hob die Hand und streckte alle Finger voneinander. «Du kennst das Symbol?»

«Ich habe es auf dem Stein in Les Alliés gesehen.» «Genau, es heisst ‹skandi›, also ‹Hand› oder ‹etwas erschaffen›. Es ist das Zeichen das wir zur Begrüssung machen» Er legte die Hand mit gespreizten Fingern vor seine Brust. «‹ey›, also ‹ich›, oder ‹ich Mensch›.» Er machte eine Faust und hielt sie sich vor die Brust. «‹gabe›, also ‹das Nichtmensch›, es umfasst alles, mit dem ich als Mensch interagieren kann. Also alles ausser Menschen.»

Es ist schwierig, ja fast unmöglich, all die Handzeichen zu beschreiben, die er mir an dem Tag zeigte. Ich versuchte mir so viel wie möglich zu merken, doch schon bald war ich dazu nicht mehr imstande.

«Das ist mein Fehler, Miribal. Das nächste Mal werden wir es singen, dann wirst du es dir leichter merken können.»

«Ist das eine Sprache, und diese Handzeichen, wozu sind sie gut?»

«Es ist, so denken wir jedenfalls und so überliefern wir es seit Jahrtausenden, unsere Ursprache. Sie war schon vor der Zunge wichtig und ist bis heute ein wichtiger Teil des Alaju geblieben. Im Sanskrit, das du ja nun ein wenig kennengelernt hast, heissen die Handzeichen ‹Mudra›, was übersetzt ‹das, was Freude gibt› bedeutet. Die Zeichen sind unterschiedlich, je nachdem, welchem Zweck sie dienen. In vielen Ländern und fast allen Kulturen werden Handzeichen verwendet. Interessanterweise haben sie auch oft dieselbe Bedeutung. Ich will mich hier aber nicht den Esoterikern anschliessen, die manchmal bei dir im Blauen Salon diskutieren. Meiner Meinung nach machen die ein zu grosses Gewese darum. Es ist mit den Mudras wie mit der Trommel: Sie hilft dir, mit den Dingen, Mensch und Nichtmensch zu sprechen.»

Leider musste er am nächsten Tag zu einem Treffen nach Berlin reisen und würde für drei oder vier Wochen weg sein. Er gab mir den Zweitschlüssel für seine Wohnung mit den Worten: «Wann immer du Lust und Zeit hast, Miribal.»

Natürlich hatte ich.

 

=Aciels Vortrag an der Sorbonne=

Es war am 14. Oktober 1934, als Aciel von einem Wissenschaftler namens Bachelard an ein öffentliches Kolloquium eingeladen wurde, bei dem er einen Vortrag über Nienetwil halten sollte. Ich entschuldige mich, denn ich kann mich nicht mehr an alles erinnern und mein Tagebuch gibt nur Auskunft darüber, dass ich glücklich war, ihn begleiten zu dürfen. Was ich aber noch weiss, ist, dass verschiedene Ethnologen und Religionswissenschaftler, aber auch eine grosse Zahl Politiker und Wirtschaftsleute, die ganze Pariser Bourgeoisie eben, in der grossen Aula der Sorbonne sassen.

Aciel war etwas nervös. Vor seinem eigenen waren zwei Stunden Vorträge: einer über ethisches Fragen beim Sezieren eines getrockneten «Negerkopfes», der als Totem in einem Dorf mitgenommen wurde, und einer über die Schwierigkeiten, das Stammesverhalten und die religiösen Bräuche bei den nordamerikanischen Indianern beobachten zu können, weil die doch schon fast alle christianisiert seien. Das müsse zwar positiv bewertet werden, da sie ja auch alle systematisch zivilisiert würden, aber es erschwere eben die Grundlagenforschung. Ich weiss, dass mir bei den Ausführungen dieses Herrn fast die Luft wegblieb und mir Aciel die Hand drückte, entweder um mich zu beruhigen oder sich an mir zu halten, weil er sonst in die Luft gehen würde. Als Aciel dann endlich an der Reihe war, stand er von seinem Platz neben mir auf, drückte mir seine Papiere in die Hand und ging zum Rednerpult.

Ich konnte seinem Gesichtsausdruck entnehmen, dass es nun wohl ein Donnerwetter geben würde, und raffte sicherheitshalber seinen und meinen Mantel zusammen, damit wir, falls nötig, den Ort fluchtartig verlassen könnten.

«Sehr geehrte Anwesende, werte Vorredner. Mein Vortrag kann nicht in derselben Weise erfolgen wie die vorhergehenden. Denn ich spreche über Nienetwil.

Die Schwierigkeit der Nienetwiler Forschung besteht nicht so sehr darin – auch wenn es ein schwieriges Unterfangen ist –, Beweisobjekte dieser Kultur zu finden, sondern vielmehr darin, dass wir als ‹moderne›, westliche Menschen, die durch die Denkstrukturen der letzten zweieinhalbtausend Jahre behindert wurden, das Handeln, die Handlungsprinzipien und das Zugrundeliegende des Nienetwiler Handelns verstehen.

Der westliche Mensch nimmt seinen Verstand viel zu wichtig. Das ist den Griechen geschuldet, die mit ihrer Denkschule wesentlich dazu beitrugen, dass heute nur naturwissenschaftliche Denk- und Beweisnormen akzeptiert sind. Das andere Übel sind die, welche dieses Denkmuster zwar zu durchbrechen versuchen, sich aber in wilden esoterischen Phantasien, in ebenfalls westlich geprägten philosophischen Denkgebilden verlieren, die den Geist nicht weniger vernebeln.

Die Wissenschaft geht noch zu einem Grossteil davon aus, dass die Welt funktioniert wie meine Remington-Schreibmaschine. Viele kleine Einzelteile, die alle einzeln für sich untersucht und beschrieben werden können und die in ihrer Gesamtheit eben eine Schreibmaschine ergeben. Der Mensch untersucht und agiert und die Maschine reagiert nach seinen Vorstellungen. Er schreibt ‹Ende› und so steht es auf dem Blatt.

Aber so funktioniert die Welt nicht. Die Schreibmaschine spricht in Wahrheit zu uns, sie schreibt nicht nur ‹Ende›, sondern jeder Buchstabe hat ein Eigenleben, das wir berücksichtigen müssen. Jedes Einzelteilchen ist nicht nur für sich zu verstehen, sondern in seiner Beziehung zu den anderen Teilen und zum Menschen. Und der Mensch agiert nicht nur nach seinem Denken, sondern auch nach seinem Fühlen und seinem Gespür für die Interaktion mit dem Anderen, und letztlich sind es seine Hände, seine Finger, die diese Interaktion vollführen.

Es gibt keinen Grund zu glauben, dass die Intelligenz des Menschen beim Gehirn aufhört. Vielmehr glaube ich, dass unsere Hände eine Brücke sind, um uns mit den Dingen zu verbinden.

Ich meine das nicht esoterisch, sondern ganz physisch, ganz real. Wer behauptet, dass ich mich nicht eins fühle mit den Dingen, dass sie bei meinem Denken, Handeln, Fühlen, ja bei meinem Sein nicht Teil sind von mir und ich von ihnen, hat das System des ‹skandi›, des schöpferischen Aktes, nicht verstanden.

Denn wenn ich erschaffe, erschaffe ich nicht alleine. Es ist nicht einzig mein Handeln, es ist das Handeln mit Partnern, mit Freunden, es ist ein gemeinsames Singen, das ein Lied ergibt, das uns beide, uns alle erfasst.

Wir, die wir einen anderen kulturellen Weg eingeschlagen haben, sind der festen Überzeugung, denn es entspricht unserer täglichen Erfahrung, dass erst durch die Zusammenkunft aller an einer Tat diese zu einer schöpferischen wird. Die Tat eines Einzelnen ist nur eine Aktion, ein Handeln ins Leere, das dies oder jenes zu verändern mag, so wie die Kugel aus einer Pistole etwas beeinflusst, ohne dass ich es berühre, aber es gibt kein Zwiegespräch, kein gegenseitiges Lernen und Beeinflussen, keine weiterführende Erkenntnis und kein Mehren des Seins. Es sind meine Hände, die den Kontakt herstellen, meine geistigen und physischen Finger, die sich mit dem Material verbinden und mich zu einem schöpferischen Akt bringen können.

Und die Gedanken? Die Gedanken sind einsame Gesellen in der Nacht. Sie irren umher, versuchen, hier und da Halt zu finden, ein Licht zu sehen, doch sie sind und bleiben einsam. Erst die Interaktion und das bewusste Erfahren machen aus einem Gedanken ein Wesen, das sich schöpferisch betätigen kann, sich verbindet und fähig wird, sich auszudrücken.

Ihr habt euch durch eure Denkzwänge, eure Denkschulen, euer Sollenmüssen von diesem Weg abgewandt. Ihr habt euch mit der Gesellschaft als einer sich unterordnenden Gruppe identifiziert. Sich einem Gott oder mehreren Göttern untergeordnet, einem König untergeordnet, einem Herrn untergeordnet, euch einer Lehre und letztlich einer Leere untergeordnet, und singt der Demut, dem Sich-Beugen vor diesen Dingen ein Hohelied.

Ihr blockiert euch selber und werdet nicht gewahr, dass gleich neben euch das Leben liegt. Ein Leben, das über euer Denken im Kopf hinausgeht, weil es ein Denken auch ausserhalb des Körpers ist, ein Leben, das durchdrungen ist von Singen und schöpferischem Handeln.

Ihr seid ein wahrhaft bedauernswertes Volk!

Es muss euch endlich bewusst werden, dass die Dinge uns ebenso formen wie wir sie. Diesem Umstand ist Rechnung zu tragen und den Dingen Respekt zu zollen. Ihr häuft Dinge an, als ob es das wäre, worum es im Leben geht, doch ihr habt keine Beziehung zu den Dingen, sie sind für euch schön, wertvoll, nützlich oder ihr seid zu faul, sie wegzuräumen. Ihr erschafft nichts mit ihnen, und das wollt ihr auch nicht. Im Gegenteil, ihr blickt mit Verachtung auf die herab, die schöpferisch sind, auf die Frauen und Männer, die Dinge erschaffen. Stühle, Stickereien, Keramiken oder Kunst kauft ihr und stellt sie euch in eure Villen und Wohnungen, aber die, die sie erschaffen – und jetzt wird es pervers –, möchtet ihr unterjochen, damit sie in Fabriken für wenig Geld billige Dinge an den Fliessbändern produzieren, statt dass ihr sie in ihren Werkstätten und Ateliers lasst. Ich behaupte, es ist eure Gier nach Wohlstand und Dingen, die andere nicht haben können, und es ist eure Angst vor Menschen, die schöpferisch, weil im Geiste freie Wesen sind.

Werte Anwesende, ich sehe Ihre entrüsteten Gesichter und düsteren Gedanken. Ihr habt erwartet, dass ich hierherkomme und Ihnen von Nienetwilern erzähle, wie Monsignore Dedesci Ihnen über die Indianer und Herr von Wendt über die afrikanischen Stämme berichtet haben. Schöne und schauerliche Berichte, die Ihre Kolonialistenherzen höher schlagen lassen und die es Ihnen ermöglichen, sich als weisse Oberschicht überlegen fühlen zu können.

Aber über Nienetwil gibt es nichts Vergleichbares zu berichten. Ihr habt Nienetwil nie kolonisieren können, weil ihr nicht wisst, wo es ist. Und ihr konntet die Nienetwiler und Nienetwilerinnen nie ausbeuten, denn sie sind nirgens und überall.

Und damit, wertes Publikum, ende ich, denn mehr habe ich nicht zu sagen.»

Ohne ein weiteres Wort und die empörten Rufe ignorierend gab er mir einen Wink, ihm zu folgen, und verliess den Saal.

 

Manchmal war er recht aufbrausend, das musste man ihm lassen. In mein Tagebuch (am nächsten Tag) schrieb ich:

«15. Oktober 1934: Gestern nahm mich Aciel an eine Veranstaltung an der Sorbonne mit. Ethnologie und Naturkunde oder etwas in der Art, ich kann es nicht genau sagen, weil er nach zwei Stunden mit seinem Vortrag dran war und wir danach geflohen sind.

Er hat sich unglaublich echauffiert und war etwas unhöflich, wobei ich zugeben muss, dass er das wohl zu Recht war. Als wir danach in ein Café gingen und er vor seinem Glas Wein sass, sah er unendlich traurig aus. ‹Du siehst traurig aus›, sagte ich. ‹Es geht alles den Bach runter›, sagte er und schmollte weiter in sein Glas. Heute werde ich versuchen, ihn wieder etwas aufzuheitern.»

 

=Die Heidan=

Im darauffolgenden Jahr, 1935, war Aciel wieder auf Reisen. Wie er mir vor seiner Abreise erklärte, wollte er nach Indien, um dort verschiedene Archäologen und Leute von Museen zu treffen. Grossbritannien hatte den «Government of India Act» erlassen und das Land teilweise unter Selbstverwaltung gestellt. Es wurde nun befürchtet, dass gewisse Leute daraus Kapital schlagen und Fundobjekte und Kunstgüter ausser Landes schaffen würden. Aciel sah darin auch eine Gefahr, dass die dortigen Funde, die auf die Nienetwiler Kultur verweisen, verschwinden könnten.

Ich blieb also alleine mit seinem Projekt zurück und wertete nur hin und wieder die immer spärlicher werdenden Briefe von Keith aus. Er selber kam nun selber nicht mehr nach Frankreich. Stattdessen besuchte mich jeweils ein Mittelsmann namens Claude Lauviac. Er war ein herzlicher und dem Rotwein nicht abgeneigter Südfranzose, bei dem alle Versuche des Staates, ihm sein occitanisches Erbe auszutreiben, fehlgeschlagen waren. Sein Akzent war derart stark, dass ich froh war, mich früher auf den Strassen herumgetrieben zu haben, um die dortigen Dialekte aufzuschnappen, sonst hätte ich ihn kaum verstanden.

Nach ein paar Treffen sprachen wir auch oft über seine Muttersprache und vergassen darob den eigentlichen Grund für sein Kommen, nämlich meine Aufgabe als Informantin.

In Paris war die Weltwirtschaftskrise inzwischen Geschichte und die Clubs, Bordelle und Salons, die Theater und Cabarets florierten wie nie zuvor. In der Stadt rauschte es, als würden die Menschen spüren, dass es bald vorbei sein würde. Entsprechend war auch das Scheherazade wie ein riesiger Bienenstock, in dem es summte und brummte und ein ständiges Kommen und Gehen war. So kam mir manches zu Ohren und vieles davon hätte ich eigentlich gar nicht wissen wollen. Es begann sich ein Bild abzuzeichnen, das derart düster war, dass ich es kaum wahrhaben wollte.

Immer öfter kamen nun auch Mitglieder des rechten Flügels und der Nationalisten, und weit mehr als uns lieb war, taten sie das in Begleitung deutscher «Freunde».

Das Jahr war schon fast vorbei, als ich eines Abends von vier Kerlen, die schon seit einer Stunde im inzwischen renovierten ehemaligen Blauen Salon herumgelungert waren, beiseite genommen wurde. «Mademoiselle Ciséan. Wir bedauern sehr, dass in Ihren Lokalitäten nach wie vor dieses Judenpack verkehrt. Wir möchten Ihnen und Mme Catilleaux nicht drohen, aber wir sind doch sehr besorgt, dass Ihnen etwas zustossen könnte, wenn anständige Bürger die Situation vielleicht mit Gewalt ändern möchten.»

«Vielen Dank, dass Sie mich warnen möchten. Aber wie Sie ja bei sich selber sehen, darf hier wirklich jeder reinkommen.»

Der Grösste von ihnen, ein langer und schlaksiger Kerl, zuckte zusammen und verzog verärgert das Gesicht: «Es wird die Zeit kommen, und es wird nicht mehr lange gehen, da werden Lokale wie dieses hier judenfrei sein, und es wird wieder eine Kultur einkehren, die das französische Volk nicht mit Affenmusik und kreischenden Juden belästigt.»

«Ich denke, meine Herren, dass ich für heute eine Ausnahme mache und die Gepflogenheiten der Gastfreundschaft etwas strapaziere», sagte da plötzlich Ophelia hinter mir. In ihrer Begleitung waren unsere «Gallier», wie wir sie nannten. Sechs grosse, schwere Bretonen, die für uns im Haus zum Rechten schauten. Die sechs waren alle miteinander verwandt, vielleicht gar Brüder, ich weiss es nicht mehr, jedenfalls war jeder von ihnen ein Bild von Mann. Sie brachten so manchen übermütigen Kerl zur Vernunft. Es reichte, dass sie die vier Kerle böse anschauten, und schon machten die rechtsumkehrt und verliessen das Haus, gefolgt von den «Galliern». Auf der Strasse wurde ihnen dann etwas unzimperlich erklärt, dass sie hier nicht mehr Zutritt hätten.

Hätte ich damals gewusst, was ich heute weiss, dann hätten wir gewiss anders gehandelt. Aber der Mensch hat leider weder die Fähigkeit, in die Zukunft zu sehen, noch das Talent, alle Möglichkeiten, die aus einer Situation entstehen könnten, in Betracht zu ziehen.

Aus meinem Tagebuch:

«9. Oktober 1935: Es wird Krieg geben. Einen schrecklichen, alles zerstörenden Krieg. Ich weiss es. Alle machen sich dafür bereit und je mehr Friedenskonferenzen die Staatsoberhäupter abhalten, desto sicherer bin ich mir. Hitler wird keine Ruhe geben, auch wenn er anderes behauptet. Ich habe den Ersten Weltkrieg miterlebt und gesehen, welches Grauen Krieg anrichtet. In den vielen Jahren, die inzwischen vergangen sind, hat sich vieles verändert. Flugzeuge, Autos, Waffen, alles wurde ausgereifter und besser. Welchen Schaden wird ein Krieg mit den neuen Waffen anrichten, wo schon der vorhergehende so schlimm war wie kein Krieg vor ihm? Ich habe Angst. Nicht nur um mich, sondern auch um Ophelia und unsere Freunde. Und ganz besonders sorge ich mich um Aciel, der immer verzweifelter versucht, die Überbleibsel seiner Kultur und seine Leute an einen sicheren Ort zu bringen.»

Kurz vor Weihnachten tauchte Aciel wieder auf. Er hatte mir ein Telegramm geschickt und ich habe ihn vom Bahnhof abgeholt. Mit ihm stieg ein gutes Dutzend Menschen aus. «Miribal, darf ich vorstellen? Das sind die ‹Heidan› aus dem Volk der Skandaj.»

Ich hob instinktiv die linke Hand und breitete die Finger aus – das Begrüssungssymbol der Nienetwiler, wie ich von Aciel wusste.

Auch sie grüssten mich auf diese Weise und ich freute mich sehr. Endlich sah ich sie, die Nienetwiler, von denen Aciel immer erzählt hatte.

«Wir werden einige Tage bleiben und erledigen, was zu erledigen ist, damit ich mit ihnen in die Schweiz fahren kann. Sie werden dort, zumindest vorläufig, eine Bleibe haben. Die Zukunft wird weisen, wie es dann weitergeht.»

Wir quartierten sie in drei Zimmern im Scheherazade ein, wo sie sich zuerst einmal von den Strapazen der Reise erholten. Wie mir Aciel auf dem Weg erzählte, hatten sie ihn von Indien her begleitet. Und er verriet mir auch, was Heidan heisst, nämlich «die gegangen sind». Offenbar war es ein Volksstamm, der den Indischen Subkontinent vor gut dreitausend Jahren aufgesucht hat und nicht mehr zurückgekehrt ist, deshalb «die gegangen sind». Man hatte jedoch in dieser Zeit immer den Kontakt behalten und Tauschhandel getrieben.

Am Tag darauf bat mich Aciel, ihn zur Schweizer Botschaft zu begleiten. Wir trafen dort den stellvertretenden Botschafter, ich weiss seinen Namen nicht mehr, der uns in sein Büro bat. Aciel und er begrüssten sich wie alte Freunde, was mich, ehrlich gesagt, nicht wunderte. Der Bekanntenkreis, den Aciel hatte, verblüffte mich kaum mehr, ich ging eigentlich vielmehr davon aus, dass er grundsätzlich alle kannte.

Weshalb mich Aciel dabeihaben wollte, war mir nicht klar. Ich sass nur schweigend am Tisch und hörte den beiden zu, wie sie über die Heidan sprachen. Arbogast überzeugte den Mann davon, dass diese Leute wichtig waren und dass die ganze Schweiz von ihren Kenntnissen und Kontakten in Indien profitieren würden. Es sei daher gewiss richtig, ihnen ein Visum zu geben, und zwar, wenn es sich machen liesse, ein unbefristetes. Er sprach auch davon, dass sie in Genf nicht auffallen würden und man jederzeit auf ihren Rat würde zugreifen können.

«Die Zeiten sind schwierig im Moment, Arbogast. Ich weiss nicht, wie wohl oder sicher sie sich bei uns fühlen werden.» «Darüber mach dir keine Gedanken», erwiderte Arbogast, «sollte es nicht klappen, werden sie ein anderes Land aufsuchen. Kanada zum Beispiel. Ich kenne dort Leute, die ihnen Schutz bieten können.»

«Was mich nicht wundert. Nun gut, ich werde ihnen ein Visum ausstellen. Und ich werde einen Bekannten von mir kontaktieren, der sich um die Leute kümmern wird. Er arbeitet beim IKRK und wer weiss, vielleicht kann er weiterhelfen.»

Als wir rausgingen, sagte er zu mir: «Ich wollte nur, dass ihr euch kennenlernt. Ich habe das ungute Gefühl, dass auch du irgendwann seine Dienste benötigen wirst.»

Am Abend organisierte ich zusammen mit Ophelia, dass die Heidan im «Salon Royale» ein richtig gutes Essen aufgetischt bekamen. Derweil ging ich meinen Verpflichtungen nach, konnte mir aber nicht verkneifen, immer wieder zur Treppe zum Keller zu schauen. Irgendwann winkte mich Ophelia, die mit einigen Leuten im Grossen Salon an einem der Tische sass und der Musik zuhörte, zu sich. «Nun geh schon, ich seh doch, dass es dich zwickt und zwackt.» Also ging ich hinunter und trat mit dem Vorwand ein, nachzufragen, ob sie noch etwas bräuchten. Meine Hoffnung wurde nicht enttäuscht, denn Aciel stellte mich allen vor und zwischen einem kleinen Mann und einer noch kleineren Frau wurde mir Platz gemacht.

Es dauerte wirklich eine ganze Stunde, bevor ich merkte, dass ich mich mit den Leuten gut unterhielt, obwohl ich eigentlich kein Wort hätte verstehen können. Als ich dann zu Aciel aufschaute, rief er über den ganzen Tisch hinweg: «Seht euch die Prinzessin an, sie ist wahrlich eine von uns!»

 

=Anka=

An Silvester luden wir alle unsere Freunde und Stammgäste ein. Im Grossen Salon hängten wir an die fensterlose Wand all die Bilder auf, die Ophelia seit der Eröffnung als Gegenleistung für Essen, Trinken oder beides bekommen hatte, manchmal auch als Freundschaftsgeschenk, und einige hatte sie sogar gekauft. Es war eine stattliche Ausstellung, in der weder van Gogh, Picasso, Toulouse-Lautrec, Signac, Anquetin, Gauguin, Émile Bernard – um nur ein paar der Berühmtesten zu nennen – vertreten waren, sondern auch weniger bekannte und völlig unbekannte Künstler. Sogar ein Bild von Aciel war gehängt. Es war ein sehr seltsames, um nicht zu sagen verstörendes Bild, denn es zeigte nichts weiter als eine knorrige alte Hand, die ein blutendes Ohr hielt. Manche munkelten, dass er damit auf van Gogh anspielte, aber ich denke, dass das nur wieder so ein Nienetwiler Wortspiel war, das nur er und seinesgleichen verstanden und sich ob des Witzes die Bäuche hielten.

Jedenfalls sah das alles ganz wunderbar aus. Der Abend wurde ein einziges rauschendes Fest. Es wurde getanzt und gesungen und Musik spielte und nicht wenige wirklich berühmte Sängerinnen und Sänger gaben sich ein Stelldichein und trugen etwas vor. Sogar die Presse berichtete über das Fest, und als mitten in der Nacht einer unserer Besucher auf dem Heimweg noch in einen Club einkehrte und dort von dem donnernden Fest erzählte, an das ausser dem Bürgermeister von Paris und Josephine Baker alle gekommen waren, ging es keine halbe Stunde und ein Wagen mit Josephine Baker hielt vor der Tür. Es gab ein grosses Ah und Oh, denn sie war in diesem Jahr gerade unglaublich populär. Kaum war der Willkommens-Applaus verklungen, da hielt der nächste Wagen, dieses Mal mit dem Bürgermeister. Für diesen gab es jedoch keinen Applaus, im Gegenteil, die Stimmung kühlte merklich ab, als Taittinger, so hiess der Mann, das Foyer betrat. Er spürte wohl, dass er nicht willkommen war, und so stellte er sich nur vor die Journalisten und Fotografen und zerrte seine Frau zu sich, damit sie auch auf dem Foto sein würde. Wir feierten die ganze Nacht hindurch und um sechs Uhr morgens brachten die Bäcker körbeweise Croissants und Baguettes und in der Küche wurde Kaffee gekocht, so sagt man, dass man ihn bis hinauf zum Montmartre gerochen habe.

Als kurz vor Mittag! die letzten Gäste gegangen waren und wir das Feld für das Reinigungspersonal räumen mussten, zog ich mich in mein Zimmer zurück und schlief bis zum Mittag des nächsten Tages durch. Es war, soweit ich weiss, das letzte Mal für viele, viele Jahre, dass ich so lange schlafen konnte.

Am Tag darauf, es war Freitag, der 3. Januar 1936, schrieb ich in mein Tagebuch:

«Gaston, ich weiss nicht, wer das war, hat mir am Silvester einen Heiratsantrag gemacht. Es folgten noch fünf weitere! Und das in meinem Alter. Ich bin eine vierunddreissig Jahre alte Jungfer und im Moment fühle ich mich auch so. Ausser dem Scheherazade und Aciels Nienetwil gibt es kaum noch etwas in meinem Leben. Ah ja, und diese eine Sache, über die ich nicht einmal hier schreiben will. Was soll ich bloss anfangen mit meinem Leben? Das kann doch nicht für immer so weitergehen? Aber ich könnte Ophelia niemals im Leben enttäuschen und weggehen. Ich verdanke ihr alles, und sie ist mir mehr Mutter, als es die meine jemals war. Ach verflixt!»

Der Januar war eisig. Ein schrecklich kalter Wind wehte durch Paris, und wie man las durch halb Europa. Ich stand hinten zwischen der Garderobe und der grossen Treppe im Foyer, als ein frierender, rot livrierter Page des «Continental» eintrat. Er schaute sich suchend um, als Rosalie ihn sah und auf ihn zuging. Sie war eine wunderschöne junge Frau aus Perpignan, ihre riesige Mähne dichten, langen schwarzen Haares hatte sie zu etwas hochgesteckt, das jederzeit auseinander und als schwarze Woge über ihre Schultern zu fallen drohte. Der Page blieb zitternd stehen und schaute sie einfach nur an, in seiner linken vor Kälte roten Hand einen Umschlag. «Wie heisst du?», fragte ihn Rosalie. Doch er starrte sie erst nur an, bevor er ein, selbst bei der hervorragenden Akustik im Foyer, für mich kaum hörbares «Simon» stotterte. «Und du hast etwas abzugeben?», fragte Rosalie. Simon starrte auf seine Füsse und dann zu ihr, bevor ihm wohl der Umschlag in seiner Hand bewusst wurde. Er streckte ihn Rosalie entgegen, als wäre er ein Strauss Blumen. «Danke», sagte Rosalie, langte in die kleine Tasche ihres Kleides und streckte ihm eine Münze entgegen. «Musst du auf eine Antwort warten, bevor du zurückgehst?» Simon schüttelte den Kopf und schaute sich nach hinten um, als suche er einen Fluchtweg. «In Ordnung, aber möchtest du dich wenigstens etwas aufwärmen, bevor du wieder gehst?» Er starrte sie an und in seinem Gesicht war in schneller Folge eine Abfolge heftigster Reaktionen zu beobachten. «Nein danke, Mademoiselle, ich muss los.» Und mit diesen Worten drehte er sich um und ging zur Tür.

Rosalie kam zu mir und lächelte. «Das ist wohl für Sie, Madame.»

Ich öffnete den Umschlag und las die Karte: «Wir müssen Sie dringend sehen. Continental Inter. Fragen Sie nach Zimmer 51. Gruss AA» «Soll ich eine Antwort überbringen?», fragte Rosalie hoffnungsvoll. «Du willst dir wohl diesen jungen Burschen krallen, was?», lachte ich.

«Ja, nein. Ich glaube, Madame, ich habe mich gerade verliebt.»

«Und so siehst du auch aus, Rosalie. Na gut, bis es losgeht, sind es noch zwei Stunden. Geh ins Continental und richte Aciel aus, dass ich schnellstmöglich komme. Und lass dir von dem Burschen nichts anhängen, klar?»

«Ja, Madame, aber ich glaube, so einer ist er nicht.»

«Umso besser!»

Ich drehte mich um und mir verkrampfte sich der Magen. Nicht vor Eifersucht auf diesen Jungen, aber vor Eifersucht auf das Gefühl, das sie gerade hatte. In all den Jahren zuvor hatte ich mich noch nie so sehr wie jetzt danach gesehnt, selber auf diese Weise verliebt zu sein.

Als ich meine Angelegenheiten im Scheherazade erledigt hatte, zog ich mich warm an und liess mich von einem unserer Fahrer ins Inter Continental bringen. Ich grüsste freundlich die Rezeptionistin und liess mich von einem ebenso jungen Burschen wie dieser Simon es war im Lift nach oben fahren. Kaum hatte ich die Hand gehoben, um an die Tür zu klopfen, da ging sie schon auf und Aciel winkte mich herein.

«Miribal, wie gut, dass du kommen konntest.» «Haben Sie an der Tür gelauert?» «Gelauert? Nein. Gewartet? Ja.»

«Es tut mir leid, Aciel, aber heute Abend wird viel los sein, ich habe nicht besonders viel Zeit. Weshalb haben Sie mich hierhergerufen und nicht zu sich ins Atelier?» «Weil ich dir jemanden vorstellen möchte und sie morgen wieder abreist, Miribal. Ich möchte dir Anka Melda vorstellen. Du wirst von ihr mehr über den Ursprung der Sprache lernen, als du es von mir jemals könntest. Es ist bedauerlich, dass du gleich wieder wegmusst, aber immerhin kannst du die Zeit nutzen, die du hast. Wir sehen uns morgen. Anka sitzt im Zimmer.» Und ohne ein weiteres Wort zog er mich rein und schob sich selber auf den Gang hinaus und schloss die Tür hinter sich.

Ich kam mir veralbert vor und war etwas sauer. Der Mann nahm sich einfach raus, was er wollte. Anderseits konnte ich davon ausgehen, dass er es gut mit mir meinte, also schaute ich schüchtern um die Ecke in das prächtig ausgestattete Zimmer. Dort sass eine alte, sehr kräftig gebaute Dame in einem altrosa Kleid auf einem moosgrünen Diwan, lächelte mir entgegen und hob ihre linke Hand mit gespreizten Fingern zu dem Gruss, den ich schon kannte. Eine Nienetwilerin also!

Die Geste war mir inzwischen schon fast vertraut und so erwiderte ich sie, als ob es ganz normal wäre.

«itobe alaju?» (Du lernst Alaju?)

«aj etobe» (Ja, ich lerne)

«ikele jo alaju» (Du sprichst gut Alaju)

«akehe» (danke)

«itobe alaju te jari?» (Lernst du schon lange Alaju?)

«ai. arbogast atobeo ey, etobe muta» (Ja, Arbogast lehrte mich, aber ich lerne nicht genug)

«Das glaube ich nicht, immerhin sprichst du mit mir Alaju», wechselte Anka in die französische Sprache.

«Es dauert lange, bis man eure Sprache erlernt.»

«Ist das so, ja? Ich denke, man lernt sie schnell und einfach, wenn man sich von den Fesseln löst, die einem die Muttersprache gibt.»

«Wie meinen Sie das?»

«Nun, das weisst du selber. Der Mensch denkt in der Sprache, die er spricht. Spricht er zwei Sprachen, hat er das Vermögen, auch in zwei Sprachen zu denken. Und das wiederum beeinflusst sein Sein. Die meisten Wörter haben nur noch wenige Bedeutungen, manche nur noch eine. Du sagst ‹vouloir›, wollen, und es hat in der Sprache nur eine Bedeutung. Nicht aber in deinem Gefühl! Es ist ein Unterschied, ob man überleben will oder einen Kaffee. Wie also drückst du das zweitere aus? Du sagst ‹aimerais›, es wäre mir lieb. Ist das dasselbe wie wollen? Nein, nicht wahr? Ich fragte dich, ob du ‹itobe Alaju›, also Alaju lernst, und du hast geantwortet ‹aj etobe›.

Nun bedeutet ‹etobe› nicht einfach nur lernen. Das Wort setzt sich aus ‹toho› und ‹be› zusammen. ‹toho› bedeutet, dass etwas in Fluss ist, noch nicht seine Form gefunden hat, Chaos, allerdings mit dem Hinweis darauf, dass sich Chaos immer zur Ordnung wandelt. Und ‹be› bedeutet Möglichkeiten. Alles was du dir vorstellst, ist möglich: ‹hen isirkeo¡ ieh be›, wie Picasso einmal sagte.

Lernen ist ein Prozess, den du selber steuerst. Du schaust in Nischen, in Ritzen, in Schubladen. Du hörst von anderen, du fragst. Du bist frei in deinem Willen, und du bist frei, dir alle Möglichkeiten wahr werden zu lassen. Du sammelst Wissen, eignest es dir an, um es anderen Sammlungen von anderen Menschen hinzuzufügen.»

«Entschuldigen Sie Madame, ich habe das nicht gewusst, ich habe einfach geplappert.»

«Ach, plappern ist schön. Es ist nicht falsch, verstehst du. Es gibt einfach im Alaju Feinheiten, die man erst erkennt, wenn man den Geist dieser Sprache und unseres Volkes versteht. Hat dir Aciel schon über uns erzählt?»

«Ja, das hat er. Ich glaube ein wenig zu verstehen, dass Sie in allen Dingen vielschichtiger denken. Nicht so geradlinig wie wir. Er hat gesagt, dass ihr keine Hierarchien kennt und daher die Sprache auch frei von Zwängen geblieben ist. Und dass das zwar gut ist und für Nienetwiler einfach, aber für Aussenstehende schwierig, weil die nicht begreifen würden, dass die Sprache wie alles andere lediglich eine Sammlung ist. Eine Sammlung von Potenzial an Möglichkeiten.»

«Das hat er aber verdammt schön gesagt, der Arbogast», lachte sie. «Nun gut, Miribal. Setz dich her zu mir. Wir wollen miteinander sprechen.»

 

=Von Müttern und Väter=

Der Frühling des Jahres 1936 hatte kaum begonnen, als ich die Nachricht bekam, dass meine Mutter gestorben sei.

Sie war gerade siebenundfünfzig Jahre alt geworden. Wie man mir sagte, hatte sie eine Erkältung verschleppt und war an einer Lungenentzündung gestorben. Wir waren uns in den letzten Jahren ein klein wenig nähergekommen, dennoch lag, solange ich mich erinnern konnte, eine Barriere zwischen uns. Ihr Tod aber berührte mich mehr, als ich vermutet hätte. Einer unserer Fahrer lud meinen Koffer ein und wir fuhren nach Villemareuil. Da mein Vater bereits vor vier Jahren gestorben war, lag das Haus eiskalt im Dunst eines Märzmorgens. Im Haus war es ebenso kalt wie draussen und es roch stickig. Ich schickte den Fahrer wieder ins Scheherazade und machte mich zu unseren Nachbarn auf, deren Haus nur wenige Hundert Meter weiter weg lag. Der Empfang war kühl und ich spürte denselben Vorwurf bei ihnen, wie ich ihn auch von anderen kannte. «Weshalb hast du überlebt und nicht dein Bruder? Weshalb hast du dich nicht um deinen Vater gekümmert und deine Mutter unterstützt? Hättest du ein anständiges Leben geführt und wärst zu Hause geblieben, dann würde deine Mutter noch leben.» Es kränkte mich zutiefst, dass niemand sich freute, mich zu sehen. Also erbat ich nur den Schlüssel für das Haus. Meine Mutter sei in der kleinen Kapelle beim Friedhof aufgebahrt, sagten sie mir, und dann ging ich. Im Haus heizte ich erst einmal ein und holte Wasser vom Brunnen, denn die Leitung, die sie erst vor wenigen Jahren hatten einbauen lassen, war eingefroren.

Danach ging ich in mein altes Zimmer. Es sah noch immer so aus wie bei meinem letzten Besuch. Damals hatte ich alles, was an meine Kindheit erinnerte, in eine grosse Korbtruhe gesteckt und nur das Bett und die Kommode, und in einer Ecke die Truhe, standen noch im Zimmer. Schnell machte ich das Bett und ging dann in die Küche, um zu schauen, ob noch etwas Essbares da wäre. Da das nicht der Fall war, ging ich ins Dorf, um einzukaufen. Gerade wollte ich den kleinen Dorfladen betreten, als mich Mme Quesnel von der Strasse her rief. «Mademoiselle Ciséan, auf ein Wort bitte.» Wir begrüssten einander. «Mademoiselle Ciséan, Ihre Mutter hat mir etwas für Sie gegeben, bevor sie, nun … sie …, kommen Sie doch schnell mit, ich habe es zu Hause liegen.» Was blieb mir anderes übrig? Ich folgte ihr in eine kleine Wohnung im Erdgeschoss eines baufälligen alten Hauses. Es war gemütlich und warm, als wir eintraten, und es roch nach Kräutertee, Staub und Speck.

«Bitte setzen Sie sich doch, ich hole den Umschlag für Sie.» Ich setzte mich an den Küchentisch und sie verschwand. Als sie wieder auftauchte, hatte sie in der einen Hand einen braunen Umschlag und in der anderen eine Flasche, die, wie ich zu Recht befürchtete, Schnaps enthielt. Sie legte den Umschlag vor mich hin, stellte die Flasche in die Mitte des Tisches und holte zwei kleine Tonbecher, die sie ebenfalls auf den Tisch stellte.

Mit Schrecken sah ich zu, wie sie die beiden tassengrossen Becher bis zur Hälfte mit Schnaps füllte. «Auf Ihre Mutter!», sagte sie nur und hielt mir den Becher hin. «Ja, auf meine Mutter.» Mir war nicht wohl in meiner Haut und ich wollte weg. «Ihre Mutter, wissen Sie das, sie war eine gute Freundin von mir.» «Ach ja?» «Ja, sie hat mir alles erzählt. Ich meine, wirklich alles, auch das, was sie im Dorf zu verheimlichen suchte. Zum Beispiel, wo Sie nun arbeiten und all das.»

«Ja? Es ist gut, dass sie jemanden zum Reden hatte.» «Sie hat viel von Ihnen gesprochen, wissen Sie? Sie war sehr stolz auf das, was Sie erreicht haben. Nicht viele Mädchen dieses Ortes haben es in Paris geschafft. Sie hat immer bedauert, dass das Verhältnis zu Ihrem Vater auch das ihre getrübt hat.» «Hätte ich meinen Vater lieben sollen? Er hat mich an einen Mistkerl verkauft, der mich bereits in der ersten Woche in sein Bett zerren wollte!» «Oh nein, bitte verstehen Sie das nicht falsch. Ihre Mutter wollte ebenso wenig wie Sie, dass Sie weggehen. Aber das Verhältnis zu Ihrem Vater hat verhindert, dass Sie Ihrer Mutter nähergekommen sind. Wären Sie sich nähergekommen, dann hätte sie vielleicht irgendwann einmal den Mut gefunden, Ihnen die Wahrheit über alles zu erzählen.»

«Die Wahrheit? Was meinen Sie damit?»

«Ich will dazu nichts sagen. Lesen Sie den Brief, Mademoiselle, es steht alles in dem Brief.»

Als ich später vom Einkaufen nach Hause kam, setzte ich mich in das nun einigermassen warme Wohnzimmer und öffnete den Umschlag. Darin lag ein kleines zugeklebtes Couvert und ein Brief.

«Geliebte Miri

Ich liege krank hier zu Hause und mir tut alles weh. Der Herr Doktor sagt, dass er das Fieber nicht senken kann. Es sieht so aus, als ginge es mit mir zu Ende. Miri, ich bereue so vieles im Leben. So vieles! Und ich bin so stolz auf Dich, dass Du Deinen eigenen Weg gehst. Ich hoffe in meinem Herzen, dass Du nichts bereuen musst! In all den Jahren habe ich Dir nie gesagt, weshalb Dich Dein Vater aus dem Haus haben wollte. Miribal. Miribal! Du warst nicht seine Tochter!»

Mir fiel der Brief aus der Hand und ich schluckte. Es traf mich wie ein Schlag mit einem Hammer. Ich wollte das nicht wissen. Ich wollte mein Leben leben. Ich wollte die Vergangenheit hinter mir lassen. Tränen rannen mir über das Gesicht und tropften auf den Brief, als ich ihn wieder aufnahm.

«Miribal, es tut mir so schrecklich leid, dass ich Dir das nie gesagt habe. Du hättest vielleicht leichter durchs Leben gehen können, und vielleicht, vielleicht hättest Du mir irgendwann verziehen und mich ebenso geliebt wie Du diese Ophelia liebst. Ja, ich weiss das. Glaubst Du, ich hätte es nicht gespürt? Aber das ist in Ordnung, Miri. Es ist in Ordnung und Du trägst keine Schuld.

1901 besuchte ich meine Schwester Francine, Du kannst Dich sicher noch an sie erinnern. Kannst Du Dich noch an Napoleon, unseren kleinen Esel, erinnern? Der zog mich damals in unserem kleinen Wägelchen nach Epernay und auch wieder zurück. Als ich auf dem Nachhauseweg war, da wollte ich, wie bereits beim Hinweg, in Chateau-Thierry bei Bekannten in ihrem Gasthof übernachten. Es war ein schöner Abend, der Gastraum war voll und ein wunderlicher junger Mann sang Lieder. Es waren uralte Lieder und auch neue, es waren Lieder der Fahrenden. Und es waren Lieder, die kein Mensch dort je gehört hatte. Er sang, das weiss ich noch wie heute, nicht wirklich gut. Aber er vermochte alle mit sich zu reissen und die Stimmung war einfach unglaublich. Ich hatte mich in meinem Leben nie so frei gefühlt. Du weisst ja, dass ich gerade erst sechzehn war, als mich Dein Vater heiratete, und mein Leben war bis dahin nicht wirklich leicht gewesen. An diesem Abend, Miri, Du hättest mich sehen sollen! Du hättest mich nicht erkannt. Ich unterhielt mich lange mit diesem Mann und er erzählte mir von seinen Reisen und wie er sich das Geld für seine Nächtigungen jeweils mit Singen und dem Erzählen von Geschichten verdiente. Er erzählte mir, dass er nun auf dem Weg nach Paris sei, um von dort nach Wien zu reisen.

Wien, stell Dir das vor, Miribal. Für mich war schon eine Reise nach Paris unmöglich. Nun, ich will nicht hinauszögern, was gesagt werden muss. Der Mann und ich, nun ja. Miribal, dieser Mann ist Dein Vater. Und auch Deinen Namen hast Du von ihm. Nun, nicht direkt, denn er wusste ja gar nicht, dass es Dich gibt. Aber am Abend hatte er ein wunderschönes Lied gesungen, in dem es um eine junge Frau ging, die Miribal hiess. Ich habe ihn gefragt, woher denn dieser seltsame Name komme und ob er vielleicht Tsigane sei. Doch er meinte nur, dass er von einem ganz anderen Volk komme, das zwar ebenso viel reise, aber eigentlich in der Schweiz beheimatet war. Ich habe mit Deinem Vater drei Tage lang gestritten, bis er mir erlaubte, Dir diesen Namen zu geben. Oh, Dein Vater. Ich glaube, er hat es schon von Anfang an gewusst. Dein Bruder war damals erst fünf Jahre alt und seit seiner Geburt hatte er sich nichts mehr gewünscht, als dass Guillaume einen Bruder bekäme. Dass er Dich nie geliebt hat, ist meine Schuld, Miribal! Aber Du musst ihm zugutehalten, dass er mich nicht verstossen hat. Nun, vielleicht hat er das auch nicht getan, weil sonst die Schande ans Tageslicht gekommen wäre. Wie auch immer, Miribal. Das ist es, was ich dir erzählen wollte, denn es ist das, was Du wissen musst. Denn eines habe ich noch immer nicht erzählt, Miri. Du hast mir bei unseren Treffen immer wieder von einem Mann erzählt, der mit Dir an Sprachen und so forscht. Miri, wie soll ich es nur sagen. Der Mann heisst gleich wie Dein Vater. Aciel Arbogast.»

 

Ich kann die Krämpfe, die mich packten, kaum beschreiben. Ich weiss nicht, wie lange ich heulte, am Boden zusammengekauert lag und einfach nicht mehr zu heulen aufhören konnte. Plötzlich fiel mein Blick auf das kleine Couvert, das im Umschlag gelegen hatte. Ich nahm es und riss es auf. Heraus fiel eine kleine silberne Halskette mit einem Anhänger. Es war eine Hand mit gespreizten Fingern und einem Kreis mit Punkt auf der Handfläche. Ich warf die Kette von mir und heulte weiter.

Als ich nach der Beerdigung meiner Mutter wieder in Paris ankam, konnte ich kaum arbeiten. Ophelia, die Gute, dachte, dass es wegen des Todes meiner Mutter war, dass ich so zerstreut war. Ich konnte ihr die Wahrheit nicht sagen.

Aciel – Aciel, den ich nun mehr als je zuvor sehen wollte – Aciel war in der Schweiz, und da blieb er auch und kam erst im Sommer zurück. In diesem verdammten Sommer.

Aus meinem Tagebuch vom 8. August 1936:

Ich kann nicht schreiben. Ich kann nicht denken. Ophelia ist erschossen worden. Sie lebt, schwebt aber in Lebensgefahr. Den Schützen haben sie erwischt und unsere «Gallier» haben ihn derart übel zugerichtet, um herauszubekommen, weshalb er es getan hat, dass das, was die Gendarmerie von ihm in der Gasse fand, nur noch wenige Stunden lebte. Es war ein Deutscher, einer der Burschen, die uns letztes Jahr bedroht hatten. Offenbar hat er für Hitlers Geheimdienst oder so etwas gearbeitet.

Es war ein schöner und heisser Samstag im August gewesen. Die Leute sassen noch spät abends draussen unter den Bäumen und im Scheherazade spielte Musik wie jeden Samstag. Es war gegen zwölf Uhr nachts, als eines unserer Mädchen zu uns an den Tisch kam und Ophelia mitteilte, dass im Foyer ein Mann mit einer Nachricht warte. Etwas ungehalten, dass sie aufstehen musste, ging sie zum Foyer und ich folgte ihr. Der Mann kam mir bekannt vor, doch ich wusste nicht, woher. Als Ophelia vor ihm stand, zog er einfach eine Pistole und schrie so etwas wie «verdammte Judenhure!» und drückte ab. Ophelia fiel rückwärts zu Boden, der Mann rannte zur Ausgangstür und in ein davor geparktes Auto. Was dort geschah, sah ich nicht selber, es wurde mir später erzählt. Der Wagen wollte anfahren und stiess mit einem anderen Wagen zusammen. Die beiden Insassen wollten aussteigen und fliehen, doch in dem Moment kamen die «Gallier», packten die beiden und zerrten sie in die Gasse neben dem Scheherazade. Dort wurden die beiden durch die Mangel gedreht, um herauszubekommen, wer sie seien und wer den Anschlag befohlen hatte.

In der Zwischenzeit kümmerten wir uns um Ophelia, bis sie nach einer halben Ewigkeit ins Hospital gebracht werden konnte. Ich fuhr kurz darauf zu ihr ins Hospital und blieb dort zwei Tage lang. Ich konnte nicht weggehen. Sie war alles, was ich hatte, und sie zu verlieren, konnte ich mir nicht einmal vorstellen, ohne dass sich mir der Magen drehte.

Doch schon drei Tage nach dem Anschlag schlug sie die Augen wieder auf.

Zwei Wochen später, als ich sie im Hospital besuchte, war Mr. Gerard, Ophelias Anwalt, bei ihr im Zimmer.

«Miribal, mein Schatz», sagte sie, als ich eintrat, «setz dich zu mir.»

Ich mache es kurz. Ophelia überschrieb mir das Scheherazade. Das und fast alles, was sie besass. «Du bist meine einzige Erbin, aber du bist nicht meine leibliche Tochter. Also habe ich beschlossen, dir alles zu überschreiben, solange ich noch lebe. Monsieur Gérard hat einen Vertrag und eine Urkunde aufgesetzt, in der auch mein Unterhalt und alles aufgelistet ist. Bitte lies es durch. Ich wünsche mir, dass du meine Nachfolgerin wirst.»

 

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  1. Inhaltsverzeichnis CRN 2-2021-1
  2. Editorial
  3. Einleitung der Herausgeber – Utopie als Gesellschaftsdesign
  4. Peter Friedrich Stephan über Design
  5. Das Ende von Arbeit und der Anfang von Design
  6. Biografie Amot Nussquammer jun
  7. Briefwechsel Nussquammer – Arbogast
  8. Alaju: Die Wörter «be», «gabe», «tobe»
  9. Grabungsbericht und Fundinterpretation N1/1 «Skandi-Stein»
  10. Biografie Patrizia Am Rhyn
  11. The Alaju Settlement - Teil 2
  12. Ausblick CRN N° 3-2021/2
  13. Impressum / Autorin und Autoren CRN 2