Ein typisches Skandaj-Halsband.
Ich sage bewusst „typisch“ und nicht traditionell, denn soweit wir wissen gibt es in der Nienetwiler Kultur keine Tradition im Sinne einer Überlieferung wie oder wann oder womit etwas gemacht werden muss. Dieses Fehlen hängt mit der Wandertradition der Skandaj zusammen. Sie bewirkt, dass in ihrem Verständnis – wie in der Nienetwiler Kultur überhaupt – alles nur temporär ist. Momente des Zusammenkommens, des gemeinsamen Handelns, Austausches von Information und Können. So kann es sein, dass sich eine Gruppe Skandaj zum Beispiel in Zentraleuropa begegnete, und die einen zeigten den anderen wie im norden Frankreichs Muscheln gebohrt und für Schmuck verwendet wird, und die anderen wie man im Südkaukasus Keramik brennt oder wie die Menschen in Nordamerika aus Flussmuscheln Perlen herstellen.
Das einzige was die Skandaj miteinander verbindet ist ihre Sprache, ihre art zu denken, die Welt wahrzunehmen und Teil von ihr zu sein. Und ihre Zeit. Zeit ist kein wirklicher Begriff im Alaju (1), obwohl es ein Worte für Zeit gibt. Ob etwas in der Zukunft oder der Vergangenheit stattfindet ist nur bedingt von Belang. Die Geschichten die sich die Skandaj bei ihren Treffen erzählen sind teilweise Jahrtausende alt und sind nicht selten in mehreren Versionen überliefert, da es wie gesagt kein Bedürfnis der Überlieferung, sondern das Bedürfnis des Teilens von Information gibt. Die Geschichten existieren noch weil sie bis heute Teil ihres Denkens und Handelns sind und auch geradeso gut in einigen Tagen stattfinden könnten.

Halsbänder werden also aus dem hergestellt was man zur Hand hat, findet oder tauscht. Sie entsprechen dem ästhetischen Empfinden der Trägerin oder des Trägers und nicht einer Tradition. Es gibt Skandaj die von jeder ‚ala‘ (2) mit der sie reisten, ein „Souvenir“ mitnehmen und zum Beispiel an Jacke, Hut, Tasche oder eben Halsband befestigen. Aber das ist ein persönlicher Wunsch und keine Tradition.
Es ist nicht so, dass die Skandaj Tradition ablehnen, sondern so, dass es in ihrem Weltbild gar nicht existiert. Treffen Skandaj auf andere Völker – die ja meist eine Vielzahl von Traditionen pflegen – dann wundern sie sich und fragen nach dem Grund weshalb das eine so und das andere so gemacht wird. Die Antwort: „Weil es schon meine Eltern und vor ihnen ihre Eltern so gemacht haben.“, finden sie dann eher unbefriedigend. Die Antwort aber „Weil es sich das aus den Materialien die in unserer Umgebung existieren machen lässt“ erscheint allerdings logisch. Trifft man dann aber auf Völker die gar nicht mehr auf ihrem angestammten Boden leben und, natürlich vergebens, an den alten Traditionen der Herstellung z.B. von Hütten festhalten, dann löst das bei den Skandaj eher Trauer aus, denn sie sehen, dass Traditionen aufhalten, statt vorwärts zu bringen. Den Skandaj bedeutet es nichts „ein Volk“ zu sein, denn das was sie verbindet erhält sich durch gemeinsames Handeln, nicht durch einen Pass oder eine Nationalhymne.
Senzori, ein Skandaj der Petientlango’a (3), erzählte einmal, dass sie an einem Fluss sassen und aus Muscheln Perlen machten. Es war Anfang der 50er Jahre und ein Ethnologe kam vorbei und fotografierte sie. Dann fragte der: «Sag, was machst du da?». «Ich mache ein Loch in die Muschel.» sagte Senzori. «Und wie?» fragte der Forscher. Senzori antwortete: «Mit grosser Vorsicht».
Ich kann mir gerade lebhaft vorstellen, wie der Ethnologe tagelang hinter das Konzept oder die Tradition dieser Skandaj kommen wollte, und irgendeinmal frustriert den Heimweg antrat.
Zu dieser Geschichte passt folgende Episode: Der amerikanische Ethnologe Johnny Melville veröffentlichte 1956 einen Artikel in „The Ethnologist“ (N°2/56), in welchem er behauptete, dass die Skandaj fast sektenhaft an ihren Traditionen festhielten, und dass es ihnen nur deshalb solange gelang in der modernen Gesellschaft zu überleben.
Miribal Ciséan (4), selber Tochter eines Skandaj, schrieb in der nächsten Nummer eine Replik auf Melvilles Artikel mit dem Inhalt, dass dieser weder für seine Theorie noch überhaupt für die Existenz der Skandaj einen einzigen Beweis vorlegen könne.
Natürlich ist es nicht das sektenhafte festhalten an Tradition die das Überleben der Nienetwiler kultur sichert, sondern ganz im Gegenteil. Das Sammeln, bilden von Netzwerken, austauschen von Information und Wissen, und das gemeinsame Handeln bilden den Boden für die Nienetwiler Kultur. Dass sie existiert ist weil sie existiert.
- Alaju = Sprache der Skandaj
- ala = Reisegruppe der Skandaj. Diese bestehen zwischen drei und maximal dreissig Personen.
- Petientlango’a sind ein „Stamm“ der Skandaj die zwischen der Westsahara und der Wüste Gobi hin und her wandern.
- Miribal Ciséan, war die Tochter von d’Aciel Arbogast, einem Skandaj und zusammen mit dem Forscher Amot Nussquammer einer der Begründer der Nienetwiler Forschung.





